Die Stunde des Parlaments
Der Bundestag wird nicht zuletzt gewählt, um Gesetze zu machen. Doch diese Aufgabe erfüllt immer häufiger die Ministerialbürokratie. Das sollte sich ändern
Der Gesetzgeber wartet auf Gesetze. Es ist eine paradoxe Situation. Vor drei Monaten, am 24. September, wählten die Deutschen einen neuen Bundestag, vor zwei Monaten, am 24. Oktober, konstituierte sich das Parlament und nahm offiziell seine Arbeit auf. Doch viel ist seitdem im altehrwürdigen Reichstag nicht geschehen. Weil es noch immer keine neue Regierung gibt, das alte Kabinett lediglich geschäftsführend im Amt ist und daher keine neuen Gesetze auf den Weg bringt, arbeitet auch die Volksvertretung auf Sparflamme. Viel zu verabschieden gibt es nicht.
Dabei hindert niemand den Bundestag, selber aktiv zu werden, nach der klassischen Lehre der Gewaltenteilung ist das Parlament, die Legislative, der Ort, der die Gesetze macht, die Regierung, die Exekutive, führt sie nur aus. In einer Demokratie hält sich nicht die Regierung ein Parlament, sondern die frei gewählten Abgeordneten wählen die Regierung und kontrollieren deren Arbeit. So weit die Theorie. In der Praxis hat sich längst der andere Weg etabliert. Der Regierungsapparat mit seiner Ministerialbürokratie bringt die Gesetze auf den Weg, die im Kabinett verabschiedet und dann dem Parlament zur Beratung und Beschlussfassung vorgelegt werden.
Dabei wäre die Zeit ohne Regierung eine einmalige Gelegenheit, den Spieß umzudrehen und die Machtverhältnisse wieder vom Kopf auf die Beine zu stellen. Niemand kann den Gesetzgeber hindern, aktiv zu werden und Gesetze zu verabschieden. Nichts und niemand kann die Abgeordneten, die nach dem Grundgesetz Vertreter des Volkes und an Aufträge wie Weisungen nicht gebunden sind, aufhalten, ihrer ureigensten Aufgabe nachzugehen. So frei, so unabhängig und so mächtig werden sie so schnell nicht wieder sein, wenn wieder die Koalitionsabsprachen und die Fraktionsdisziplin gelten.
Dies gilt vor allem für die Regelung der eigenen Belange, die die Regierung ohnehin nichts angehen. Das Wahlrecht muss dringend reformiert werden, der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat nach dem Scheitern in der letzten Legislaturperiode bereits an die Fraktionschefs aller im Bundestag vertretenen Parteien appelliert, zügig das Thema anzugehen. Denn mit 709 Abgeordneten ist der Bundestag, der eigentlich nur 598 Mitglieder haben sollte, so groß wie noch nie, 46 Überhangmandate von CDU, CSU und SPD führten zu 65 weiteren Ausgleichsmandaten, von denen alle Parteien außer der CDU/CSU profitierten, damit die Sitzverteilung exakt dem Zweitstimmenergebnis entspricht.
Natürlich ist die Materie äußerst komplex, weswegen die Bemühungen um eine Reform in der letzten Legislaturperiode auch scheiterten. Einerseits muss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachtet werden, die dem Gesetzgeber äußerst strenge Vorgaben macht. Andererseits werden vor allem die vier „kleinen“Parteien, die nie in den Genuss von Überhangmandaten kommen, aber stark von den Ausgleichsmandaten profitieren, jede Neuregelung ablehnen, die sie zu stark benachteiligt. Und bei aller Kritik am aufgeblähten Bundestag – der Wählerwille muss sich in der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln, er darf durch die Überhangmandate nicht verfälscht werden. Die Bürger bekommen den Bundestag, den sie gewählt haben, sie, niemand sonst, bestimmen durch ihr Wahlverhalten die Größe des Parlaments.
Gleichwohl ist die Zeit reif für eine Reform. Gerade weil es keine Regierung gibt und somit auch keine Gesetzgebungsarbeit, kann sich der Bundestag mit umso größerer Freiheit und Unabhängigkeit um seine ureigensten Belange kümmern. Die Ausrede, man habe keine Zeit dafür gehabt, greift im Augenblick nicht. Zeit ist im Übermaß vorhanden. Und der Gesetzgeber ist noch immer der Bundestag. Dafür wurde er gewählt.