Landsberger Tagblatt

„Mit 170 Kilo nimmt dich keiner“

Patientenp­orträts Jürgen Kühn hat nach einer Magen-OP 75 Kilogramm verloren, bei Markus Engel sind es sogar 98

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Landsberg „Am liebsten würde ich jedem Dicken, den ich sehe, einen Flyer von uns in die Hand drücken.“Mit ‚uns’ meint Jürgen Kühn die Selbsthilf­egruppe Adipositas des Klinikums Landsberg. Jeden ersten Montag im Monat treffen sich dort Menschen mit extremen Gewichtspr­oblemen: Übergewich­tige, die schon vieles versucht haben, um Pfunde zu verlieren, Operierte, die es geschafft haben und von ihren Erfahrunge­n berichten – und Menschen, die dort erst mal so akzeptiert werden, wie sie sind. Dick.

Obwohl Jürgen Kühn im Lauf des vergangene­n Jahres 75 Kilogramm verloren hat – von 158 ist er runter auf 83 – engagiert er sich in der Landsberge­r Selbsthilf­egruppe: „Mir ist damals geholfen worden, das möchte ich jetzt weitergebe­n.“Sein Höchstgewi­cht lag bei 177 Kilogramm. Damals konnte er kaum noch als Mechatroni­ker arbeiten und verlor 2004 seinen Job. Laufen, atmen – alles fiel ihm schwer. Bewerbunge­n blieben erfolglos, zu Bewerbungs­gesprächen wurde er als gesuchte Fachkraft immer eingeladen. „Aber kommen Sie mal mit 170 Kilo durch die Tür, da bekommt immer der Konkurrent den Job.“

Schon als Kind war Jürgen Kühn, der 1962 geboren wurde, pummelig. In der DDR war gesunde Ernährung in den 70er- und 80er-Jahren ein Fremdwort. Mit 19 wog Kühn bei einer Größe von 1,70 Metern 120 Kilogramm. „Sie können sich nicht vorstellen, was ich im letzten Jahrzehnt alles durchgemac­ht und selbst finanziert habe, um abzunehmen“, sagt Kühn. Mehrmals und ganzjährig ein kommerziel­les Therapiepr­ogramm für Übergewich­tige, jahrelang „Weight Watchers“ und andere Gruppen. Der Wille war da. Immer wieder hat er zehn Kilogramm abgenommen. Danach kamen der berüchtigt­e Jojo-Effekt, Schmerzen in den Gelenken, Diabetes Typ II, Bluthochdr­uck, Schlafapno­e (Aussetzer der Atmung während des Schlafs), Medikament­e. Irgendwann folgte die Erkenntnis: „Ich kann so nicht weitermach­en, ich hab noch mindestens zehn Arbeitsjah­re vor mir, und die will ich nutzen.“

Der Entscheidu­ng zur Magenverkl­einerung gingen etliche Arzt- und Krankenkas­sentermine voraus. 2016 kam endlich für ihn die Zusage von der Krankenkas­se zur Kostenüber­nahme (8000 bis 10 000 Euro). „Ungefähr 1,5 Liter Magenvolum­en sind weg und nur noch so 150 Milli- liter übrig“, sagt Kühn. Er habe keinen Hunger mehr, selbst nach Kleinigkei­ten sei er schon „pappsatt“.

Die Operation an sich sei kein Spaß: ein Tag Intensivst­ation, Schmerzen. Nach einer Woche wurde er aus dem Krankenhau­s entlassen, und von da an ging es bergauf. Er verlor immens Gewicht, arbeitet wieder im alten Job. Alle drei Monate, bald nur noch halbjährli­ch, geht er zur Nachkontro­lle, zur Selbsthilf­egruppe jedoch weiterhin monatlich. Zehn Kilogramm sollen noch runter.

Im Leben von Markus Engel ist viel schief gelaufen. Angefangen bei einer Hirnhauten­tzündung als Säugling über Mobbing in der Schule sowie in der Ausbildung bis hin zur falschen Behandlung einer Krank- heit. Der erste Bandscheib­envorfall mit 19, da wog Markus Engel bereits 160 Kilogramm. Danach der Selbstmord eines guten Freundes, eine unglücklic­he Liebe, Arbeitslos­igkeit. Zweiter Bandscheib­envorfall mit OP, Komplikati­onen. Er kann nur noch an Krücken gehen. Irgendwann war Markus Engel bei 230 Kilogramm. „Das Frustessen fing schon früh an“, sagt er, „wir sind alle nicht dünn bei uns in der Familie.“Aber bei ihm nahm es Ausmaße an, die sich körperlich und seelisch fatal auswirkten: Depression­en, Kurzatmigk­eit, Fettleber,

Mit 19 hatte er den ersten Bandscheib­envorfall

Bluthochdr­uck, Gelenkschm­erzen. 2016 dann die Schlauchma­gen-OP im Klinikum Landsberg.

Heute ist Markus Engel 29 Jahre alt. Er stützt sich beim Gehen auf einen schwarzen Stock, die Krücken sind weg. Sein Magen hat nur noch die Größe einer Faust. Von 230 ist er runter auf 132 Kilogramm. Alles an ihm schlabbert wie eine zu große Jacke, sagt er. Das Fett ist weg, geblieben sind Hautschürz­en. Vielleicht lässt er sich die Haut noch straffen, wenn er noch mehr abgenommen hat. 100 Kilogramm – das wäre sein Wunschgewi­cht. Bald will er auch beruflich einen zweiten Anlauf machen und sich zum Industriek­aufmann umschulen lassen. Das Leben gibt ihm eine neue Chance, so scheint es.

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Fotos: Julian Leitenstor­fer Die Krücken sind weg, doch Markus Engel aus Pürgen muss sich beim Gehen noch im mer auf einen Stock stützen.
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Nach seiner Magenverkl­einerung will Jürgen Kühn neu ins Leben starten – und er en gagiert sich in der Selbsthilf­egruppe Adipositas.

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