Schwacher Sieger
Parteitag SPD-Chef Martin Schulz hatte nur noch diese eine Chance, seine letzte. Nach hartem Ringen setzt er sich knapp durch, seine Partei stimmt für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union. Einfacher wird’s für ihn jetzt nicht
Bonn
Quälende Minuten lang mussten die Delegierten ihre Arme mit den roten Stimmkarten nach oben strecken. Die Leitung des SPDSonderparteitags will genau nachzählen, wer für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien ist – und wer dagegen. Denn auf den ersten Blick ist die Sache alles andere als klar. Erst nach einigen Minuten verkündet Noch-Justizminister Heiko Maas: 362 Genossen befürworten Gespräche, 279 lehnen sie ab, einer enthält sich.
Die Entscheidung fällt nach einem Tag des erbitterten Streits. Schon der morgendliche Weg ins Kongresszentrum gerät für die Delegierten zu einer Art moralischem Spießrutenlaufen. GroKo-Gegner aus ganz unterschiedlichen Richtungen versuchen lautstark, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Naturschützer und Greenpeace klagen, SPD und Union hätten in ihrem Sondierungskompromiss die Klimaziele geschleift. Eine Gruppe von Flüchtlingen fordert uneingeschränkten Familiennachzug. Busfahrer wollen bessere Sozialleistungen. Und der Partei-Nachwuchs beschallt den Vorplatz mit dröhnender Anti-GroKo-Rap-Musik.
Viele Jusos haben rote Zwergenmützen aufgesetzt, eine Retourkutsche Richtung CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, der den Kampf der GroKo-Skeptiker als „Zwergenaufstand“verhöhnt hatte. Zur Not müssen es Nikolausmützen tun für das Schauspiel, das wie ein Vorgeschmack wirkt auf die „Selbstverzwergung“, vor der sich alle in der Partei so sehr fürchten. Nur dass sie sich nicht einig sind, ob die Schrumpfung eintritt, wenn die Partei in eine Große Koalition eintritt – oder wenn sie es nicht tut.
Doch die Parteispitze nimmt die „Zwerge“ernst, keiner im Vorstand mag sich noch am Samstag darauf verlassen, dass der Weg in die Koalitionsverhandlungen mit Angela Merkel und ihrer Union nicht doch von einer Parteitagsmehrheit blockiert wird. Zumal auch einige Riesen im SPD-Gefüge klargemacht haben, dass sie am Sondierungspapier noch Nachbesserungsbedarf se- hen. Aus dem mächtigen Landesverband Nordrhein-Westfalen, der allein 144 von knapp 600 Delegierten stellt, kommt die Forderung, in Koalitionsverhandlungen der Union weitere Zugeständnisse abzutrotzen. Und zwar ein Verbot der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen, erste Schritte zur Abschaffung der „Zweiklassenmedizin“und großzügigere Ausnahmeregelungen zum Familiennachzug von Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutzstatus.
Der Vorstoß aus der „Herzkammer der Sozialdemokratie“wird schließlich Teil des Leitantrags für die Koalitionsgespräche, der Zusatz soll eine weitere Brücke für die GroKo-Skeptiker bauen. Doch wie viele sie beschreiten werden, ist bei Beginn der Debatte nicht erkennbar.
Zum Auftakt tritt Malu Dreyer auf die Bühne. Die beliebte rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin hat an diesem Morgen wohl kaum ohne Hintergedanken in den Kleiderschrank gegriffen. Sie trägt den leuchtend roten Blazer über einer schwarzen Bluse. Noch vor Wochen zählte sie zu den Gegnern einer neuen Großen Koalition. Inzwischen hat sie ihre Meinung geändert.
„Schade, dass der Union der Mut zur Minderheitsregierung fehlt“, sagt sie. Doch die SPD könne die Union nicht in eine Minderheitsregierung zwingen. „Heute lautet die Frage: Verhandlungen über eine Große Koalition oder demnächst Neuwahlen“, sagt Dreyer. Ein Bündnis mit der Union wäre „immer ein Zweckbündnis, aber Deutschland braucht eine Regierung“. Wie solle die SPD bei Neuwahlen auch in einen Wahlkampf gehen, „mit Themen, die sie in der Regierung hätte umsetzen können“. Vom Parteitag müsse das Signal ausgehen, „dass wir die Erneuerung der SPD vorantreiben“. Und die sei auch in einer Regierung möglich.
Und dann kommt Hauptredner Martin Schulz, auf den sich an diesem Nachmittag alle Augen richten. Er wirkt erschöpft, leidenschaftslos. Man sieht ihm die Anstrengungen der vergangenen Wochen an. Doch auch wenn er sich mit ganzer Kraft aufbäumt gegen die drohende GroKo-Ablehnung, die ihn wohl auch das Amt als Parteichef kosten würde – der Funke springt nicht über. Er rechtfertigt noch einmal seine Kehrtwende von der entschiedenen Absage an ein schwarz-rotes Bündnis am Wahlabend hin zum leidenschaftlichen Werben für ein solches Bündnis. „Die Lage hat sich seit dem Scheitern von Jamaika verändert“, sagt Schulz.
Die SPD habe in den Sondierungen eine Menge erreicht, könne vieles umsetzen, was im Wahlkampf versprochen worden sei: einen öffentlichen Arbeitsmarkt für bis zu 150 000 Menschen etwa. Den schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlages „von unten her“, zwei Milliarden zusätzlich für sozialen Wohnungsbau. Schulz’ Ausführungen geraten zu einer Art Rechtfertigungsrede für das Ergebnis der Sondierungen – und er kündigt an: Auch in möglichen Koalitionsgesprächen werde die SPD weiter gegen befristete Arbeitsverhältnisse ankämpfen. Es gebe im Sondierungspapier zudem keine Obergrenze bei Flüchtlingen, es bleibe beim Grundrecht auf Asyl. Auch weitere Härtefallregelungen beim Familiennachzug müsse die Union noch zugestehen. „Wir werden bis zum letzten Verhandlungstag für ein Ergebnis kämpfen, mit dem wir guten Gewissens vor unsere Mitglieder treten können“, versichert der frühere Buchhändler aus Würselen.
Wie ein Staranwalt baut Schulz sein Plädoyer auf: Da gebe es ja dann auch noch eine Klausel, die Arbeit der Regierung nach zwei Jahren zu bewerten. „Die Zusammenarbeit mit der Union ist nicht ideal gelaufen, das haben wir nicht vergessen. Vertragsbruch werden wir nicht mehr tolerieren.“Ist der freundliche Applaus ein Vorzeichen, dass die 597 Delegierten und 45 stimmberechtigten Vorstandsmitglieder ihrem Chef folgen werden?
Bevor es zur Entscheidung kommt, wollen noch rund hundert Delegierte ihre Meinung sagen. Kaum dem Stimmbruch entwachsene Jusos machen fehlende Erfahrung mit Leidenschaft wett. Auch unbeholfene Anti-GroKo-Plädoyers werden laut beklatscht. Auf der anderen Seite mahnen Genossen mit Regierungserfahrung wie Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz, Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, oder der Landesvater von Niedersachsen, Stephan Weil, zur Verantwortung – und für den Schritt in die Große Koalition.
Gespannt erwartet wird der Auftritt von Juso-Chef Kevin Kühnert, dem sprachmächtigen Kopf der Gegner einer Großen Koalition. Er krempelt lässig die Ärmel seines dunklen Hemdes hoch und stellt erst einmal klar, dass das Sondierungspapier für seine Haltung gar nicht so entscheidend sei. „Unsere Leute haben gut verhandelt“, lobt Kühnert die Spitzen seiner Partei. Um sie gleich darauf massiv zu kritisieren. „Wir machen uns klein durch die Art, wie wir auftreten“, sagt er im Hinblick auf die Beteiligung der SPD an der bisherigen Großen Koalition unter Merkel.
Mit der Union seien die Gemeinsamkeiten schlichtweg aufgebraucht. Das Gerede vom Zwergenaufstand beeindrucke ihn nicht, er sei auch nur 1,70 Meter groß. Auch ein anderer Satz sorgt für Gelächter: „Wären wir eine Kneipe, könnten wir sagen, die Union schreibt seit Jahren bei uns an.“Die SPD müsse nun „einmal ein Zwerg sein, um in Zukunft einmal wieder Riese sein zu können. Stimmt mit Nein“. Sein Applaus ist lauter als der von Schulz. Bahnt sich tatsächlich die Sensation an? Folgt die Partei nicht ihrem Chef, sondern der 28-jährigen Nachwuchshoffnung?
Es ist dann Fraktionschefin Andrea Nahles, selbst einst aufsässige Juso-Chefin, die zeigt, dass auch die GroKo-Befürworter das Spiel mit den ganz großen Emotionen beherrschen. Nahles schreit mehr, als sie spricht, ihre Stimme überschlägt sich fast, als sie vor den Folgen von Neuwahlen warnt. Empathisch, kämpferisch, überzeugend.
Wie die Wähler auf ein SPD-Nein zum Regieren reagieren würden, ist für sie klar: „Die zeigen uns den Vogel. Das ist doch Blödsinn, verdammt noch mal. Das Einzige, was ich euch versprechen kann, dass wir verhandeln werden, bis es quietscht. Wir werden weitere gute Sachen herausholen, und dafür lohnt es sich, Ja zu sagen.“Für ihre Brandrede bekommt Nahles den mit Abstand größten Applaus. Und der Antrag der Parteispitze eine Mehrheit. Die SPD kann Koalitionsgespräche mit CDU und CSU aufnehmen, bekommt aber den klaren Auftrag mit auf den Weg, noch einmal tüchtig nachzuverhandeln.
Bis zu einer Regierungsbildung ist es also noch weit. 440000 SPDMitglieder haben die letzte Entscheidung über die Bildung einer GroKo. Als sich die Delegierten eilig auf den Weg zu ihren Fliegern und Zügen nach Hause machen, wissen sie: Der Streit in ihrer Partei ist noch lange nicht zu Ende.
Die Parteispitze nimmt die Zwerge von den Jusos ernst
Schulz baut sein Plädoyer wie ein Staranwalt auf