Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (74)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Und ich sagte zu ihr: „Es ist gut, ich werde es tun, Ruth. Ich werde Tommys Betreuerin, sobald es geht.“Ich flüsterte diese Worte nur, denn selbst wenn ich geschrien hätte, so hätte sie mich nicht verstanden, glaubte ich. Aber ich hoffte sehr, dass sie während der paar Sekunden, in denen unsere Blicke ineinander ruhten, meinen Ausdruck genauso gelesen hatte wie ich den ihren. Dann war der Moment vorbei, und sie war wieder weit fort. Natürlich werde ich es nie sicher wissen, aber ich glaube, sie hat mich verstanden. Und auch wenn sie es nicht verstanden hat, bin ich heute der Auffassung, sie wusste wahrscheinlich die ganze Zeit und noch lang vor mir, dass ich Tommys Betreuerin würde und dass wir beide „es versuchen“würden, wie sie uns damals auf unserem Ausflug ans Herz gelegt hatte.
Kapitel 20
Fast auf den Tag genau ein Jahr
nach unserem Ausflug zum Boot wurde ich Tommys Betreuerin. Es war nicht lang nach Tommys dritter Spende, und obwohl er sich gut erholte, brauchte er noch sehr viel Ruhe, und wie sich zeigte, war das für uns gar nicht schlecht, um diese neue gemeinsame Phase zu beginnen. Es dauerte nicht lang, bis ich mich ans Kingsfield gewöhnt hatte, es sogar zu mögen begann.
Die meisten Spender im Kingsfield bekommen nach der dritten Spende ein eigenes Zimmer, und Tommy hatte eines der größten Einzelzimmer im ganzen Zentrum. Manche vermuteten später, ich hätte das so für ihn arrangiert, aber das war nicht der Fall; es war einfach Glück, und so toll war das Zimmer ja gar nicht. Ich glaube, früher, als die Leute hier noch Urlaub gemacht haben, war es ein Badezimmer, denn es gab nur ein Fenster mit Milchglasscheibe sehr hoch oben, fast unter der Decke. Hinausschauen konnte man nur, wenn man auf einen Stuhl stieg und das Fenster aufhielt, und auch dann beschränkte sich der Ausblick auf das dichte Gestrüpp unten. Das Zimmer war L-förmig, was bedeutete, dass sie zu den üblichen Möbeln – Bett, Sessel, Kleiderschrank – auch ein kleines Schülerpult mit aufklappbarem Deckel hineinstellen konnten, was sich als echter Pluspunkt erwies, wie ich später erklären werde.
Ich möchte aber keinen falschen Eindruck von dieser Zeit im Kingsfield vermitteln: Oft war es wirklich gemütlich, fast idyllisch. Meine übliche Besuchszeit war nach dem Mittagessen, und wenn ich kam, lag Tommy auf dem schmalen Bett – immer vollständig angekleidet, weil er sich nicht „wie ein Patient“vorkommen wollte. Ich saß im Sessel und las ihm aus verschiedenen Taschenbüchern vor, die ich mitzubringen pflegte, Sachen wie die Odyssee oder Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Wenn ich nicht vorlas, unterhielten wir uns, manchmal über früher, manchmal über andere Dinge. Am späten Nachmittag nickte er oft ein, und ich saß dann an seinem kleinen Schreibtisch und holte den Rückstand auf, in dem ich mit meinen Berichten war. Es war erstaunlich, wirklich, wie die Jahre dahinschmolzen und wir so frei und selbstverständlich miteinander umgehen konnten.
Aber natürlich war nicht alles wie früher. Schon deshalb, weil Tommy und ich endlich anfingen, miteinander zu schlafen. Ich weiß nicht, wie sehr sich Tommy vorher in Gedanken damit beschäftigt hatte. Immerhin musste er sich von seinem letzten Eingriff erholen, und vielleicht stand Sex für ihn nicht im Vordergrund. Ich wollte ihn nicht bedrängen; andererseits aber dachte ich, wenn wir jetzt am Anfang, als wir gerade wieder zueinander fanden, zu lang damit warteten, würde es immer schwieriger werden, Sex zu einem selbstverständlichen Bestandteil unserer Beziehung zu machen. Und mein zweiter Gedanke war wohl, wenn unsere Pläne tatsächlich in die Richtung gingen, die Ruth uns gezeigt hatte, und wir um einen Aufschub baten, könnte es sich als echter Nachteil erweisen, wenn wir nie miteinander geschlafen hätten. Zwar glaubte ich nicht, dass man uns zwangsläufig danach fragen würde. Meine Sorge war aber, dass man es uns irgendwie anmerken würde, vielleicht in Form einer mangelnden Vertrautheit miteinander.
An einem Nachmittag in seinem Zimmer beschloss ich also, damit anzufangen, und zwar in einer Weise, dass es ihm freistand, darauf einzugehen oder nicht. Er hatte wie üblich auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt, während ich ihm vorlas. Als ich fertig war, ging ich zu ihm hinüber, setzte mich auf die Bettkante und schob eine Hand unter sein T-Shirt. Schon ziemlich bald war ich weiter unten, und obwohl er eine Weile brauchte, um hart zu werden, spürte ich sofort, dass er glücklich darüber war. Bei diesem ersten Mal mussten wir noch auf Nähte aufpassen, und überhaupt hatte ich das Gefühl, dass wir nach all den Jahren, die wir einander ganz ohne Sex gekannt hatten, jetzt eine Art Zwischenstadium brauchten, bevor wir es richtig genießen konnten. Deshalb machte ich es ihm diesmal einfach mit den Händen, und er lag nur da und unternahm keinen Versuch, mich ebenfalls anzufassen, gab nicht einmal einen Laut von sich, sondern sah einfach nur friedlich aus.
Aber neben unserer Hoffnung, dass dies ein Beginn wäre, ein Tor, das wir durchschritten, schwang schon bei diesem ersten Mal noch etwas anderes mit, ein Gefühl, das ich lange Zeit nicht wahrhaben wollte, und wenn ich es doch nicht verdrängen konnte, versuchte ich mir wenigstens einzureden, dass es irgendwann von selbst verschwinden würde, zusammen mit seinen vielfältigen Schmerzen und Beeinträchtigungen. Ich meine damit, dass von Anfang an, schon bei diesem ersten Mal, an Tommys Verhalten etwas war wie ein Beiklang von Trauer, der zu sagen schien: „Ja, wir tun das jetzt, und ich bin froh darum. Aber wie schade, dass wir so lang damit gewartet haben.“
Und auch in der Zeit danach, als wir richtig miteinander schliefen und wirklich glücklich waren, auch dann war dieses nagende Gefühl nie ganz verschwunden. Ich tat alles, um es nicht richtig aufkommen zu lassen. Ich sorgte dafür, dass wir wirklich sämtliche Register zogen, so dass uns alles zu einem rauschhaften Zustand verschwamm und für nichts anderes mehr Platz war. Wenn er oben war, spreizte ich weit die Knie für ihn; egal, welche Stellung wir sonst hatten, sagte und tat ich alles, was mir einfiel, um es so schön und leidenschaftlich wie möglich zu machen; und dennoch verschwand es nie ganz.
Vielleicht lag es auch an diesem Zimmer, an dieser Milchglasscheibe, durch die das einfallende Sonnenlicht selbst im Frühsommer herbstlich wirkte. Oder daran, dass die Stimmfetzen, die gelegentlich zu uns heraufdrangen, nicht von Kollegiaten stammten, die auf der Wiese saßen und über Gedichte und Romane diskutierten, sondern von Spendern, die sich draußen auf dem Gelände um ihre Angelegenheiten kümmerten. »75. Fortsetzung folgt