Hilflos im Angesicht der Weibsattacke
Martin Walser Der neue Roman des Schriftstellers scheint wie gemacht für die Zeiten von „#MeToo“
Zielgenauer kann man kaum in einer Debatte landen wie Martin Walser mit seinem neuen Buch. Der Roman „Gar alles“lässt sich gar nicht anders lesen als mit ständigem Seitenblick auf die gegenwärtige „#MeToo“-Aufgeregtheit. Denn im Zentrum des schmalen Bandes steht die Frage eines sexuellen Missbrauchs.
Ein gewisser Justus Mall, Autor philosophischer Bücher, schreibt „Briefe an eine unbekannte Geliebte“, nicht auf Papier, sondern als Blog und damit hinaus in die Weiten des Internets. Er sucht, wie er offenherzig bekennt, nach Verständnis für sein Dilemma, welches – auf den Punkt gebracht – darin besteht, ein Erotomane zu sein. Mall liebt „die Eine“(seine Frau) ebenso wie „die Andere“(seine Geliebte), sieht sich aber von beiden Seiten zum Verzicht auf die jeweils andere gedrängt. Wenn’s bloß bei diesem Zwiespalt bliebe! Justus Mall aber hat sich tagtäglich der „hageldichten Folge weiblicher Erscheinungen“zu erwehren, hervorgerufen durch „Busen plus Blick“und allerlei weitere „Weibsattacke“.
Nicht verwunderlich bei solcher Konditionierung, dass dem Mann eines Tages etwas widerfährt, das seiner bisherigen Existenz – vor dem Philosophen-Dasein war er Oberregierungsrat – den Boden entzieht. Bei einem Opernbesuch steht er in der Pause an der Bar, als sich auf dem Hocker nebenan für einen Moment eine junge Frau zu ihm wendet – genauer gesagt, in seiner Wahrnehmung: ein „gleißender Oberschenkel“. Er fühlt sich „verführt“, möchte deshalb „reagieren dürfen“, tippt mit dem
Zeigefinger kurz auf den Schenkel und bringt dazu ein Prosit aus, was die Frau auch erwidert. Zwei Tage später aber bekommt er die Szene via Zeitung aus einer anderen Perspektive präsentiert, die junge Frau war nämlich Journalistin. Und schreibt nun, sie sei in der Pause von einem hochgestellten Beamten begrapscht worden. Andere Zeitungen steigen ein, ein Skandal kommt ins Rollen, auch, weil Justus Mall sich verteidigt mit Sätzen wie: „Wo du hinschaust, lächelt, lacht, grinst dir eine Frau entgegen und streckt dir etwas hin, ihre Haare, ihre Brüste, ihre Beine.“Was er, das vergisst er nicht hinzuzufügen, „nicht furchtbar, sondern herrlich“findet. Auf die öffentliche Empörung folgen Krankheit, Pensionierung, Neubeginn mit Philosophie. Die gewählte Briefstruktur – zu Wort kommt ausschließlich das Ich, das aus dem Netz zu keiner Zeit Resonanz erhält – bringt es mit sich, dass der starke Tobak des Justus Mall nicht auf Widerrede stößt. Das ist natürlich der erzählerische Trick des Martin Walser, mit dem er der wohlfeilen Wohlausgewogenheit entflieht. Für den inzwischen 91 Jahre alten Romanautor ist das zugleich heikel, bringt es doch die Gefahr mit sich, mit dem Sachbuchschreiber Mall schnöde kurzgeschlossen zu werden.
Schwer wiegt, dass Walser seine vom Eros gebeutelte Hauptfigur unter Wert verkauft. Etwas mehr Reflexion über das neurotisch triebgesteuerte Entflammtsein, die Hilflosigkeit des Verführten, die ihn zum Ausagieren geradezu zwingt, dürfte man von einer Figur wie Justus Mall schon erwarten, der Mann ist schließlich Oberregierungsrat und vermag Nietzsche zu lesen. Dass Walser ihn in seinen Rechtfertigungen an die „unbekannte Geliebte“in der verbalen Schmuddelecke belässt, passt auch so gar nicht zu den Maximen und Reflexionen, die den Briefen beigegeben sind – in der Buchmitte über dreieinhalb Seiten hinweg –, ebenso wenig wie zu den Kurzgedichten, die als Postskriptum so gut wie alle Schreiben beschließen. Auch gibt Walser den Widerspruch, dass Justus Mall seinen Schenkel-Tipp als Petitesse auslegt, die Journalistin aber von einem obszönen Übergriff berichtet, leichtfertig preis. Weshalb das männliche Selbstverständnis hier auf Freispruch plädiert, das hätte man gerne ausführlicher gelesen von der Hand des einschlägig bekannten Seelenkundlers und nach wie vor verschwenderisch sein Füllhorn ausgießenden Sprachartisten Walser.
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt, 107 S., 18 ¤