Wenn Krankenkassen die Alten vernachlässigen
Prüfbericht Mit aufwendigen Werbemaßnahmen und Bonusprogrammen ködern die Kassen junge und gesunde Mitglieder. Bei Alten, chronisch Kranken und Behinderten werden dagegen oftmals die Leistungen gekürzt
Berlin Die einen bringen Geld, die anderen kosten Geld. Ist das der Grund dafür, dass die gesetzlichen Krankenkassen ihre jüngeren und gesunden Mitglieder mit attraktiven Bonusprogrammen und Wahlleistungen bevorzugen, dagegen die Alten, chronisch Kranken und Behinderten systematisch benachteiligen? An Indizien herrschte kein Mangel, dass diese im Vergleich zu jüngeren Patienten deutlich schlechtere Leistungen erhalten oder dass ihre Anträge häufiger abgelehnt werden, damit die Kassen ihre Bilanzen verschönern. Doch nun kommt von offizieller Seite eine Bestätigung für diese Vermutungen.
Die Vorwürfe des Bundesversicherungsamts mit Sitz in Bonn, das die Rechtsaufsicht über die Träger der gesetzlichen Kranken-, Rentenund Unfallversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung innehat, wiegen schwer. In einem 166 Seiten umfassenden „Sonderbericht zum Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“wird Barmer, DAK, AOK und Co. in aller Deutlichkeit attestiert, gegen das Solidaritätsprinzip zu verstoßen. Stattdessen würden sie „unlautere Wettbewerbsstrategien zur Gewinnung und Bindung gesunder Versicherter“betreiben – auf Kosten derer, die die Hilfe am dringendsten benötigen.
Zwar habe sich die Einführung von mehr Wettbewerb zwischen den Kassen vor 25 Jahren „im Wesentlichen bewährt“, gleichwohl gebe es „Schattenseiten“, sagt der Präsident des Versicherungsamtes, Frank Plate. „Wenn sich Krankenkassen nur noch als Unternehmer begreifen und ihre Marktbehauptung in den Vordergrund ihrer Bemühungen stellen, haben sie ihren Auftrag in der Solidargemeinschaft vergessen.“Es gehe nicht um den Erhalt einzelner Krankenkassen, „sondern um eine gute und effiziente Versorgung der Versicherten“. Die von ihnen angebotenen Satzungsleistungen, Wahltarife, Bonusprogramme, aber auch Selektivverträge „führen häufig nicht zu der vom Gesetzgeber gewollten Verbesserung der Versorgung“, kritisiert Versicherungsamtschef Plate.
Konkret wirft die Aufsichtsbehörde den Kassen vor, „häufig aus Kulanz“die Anträge von jüngeren Mitgliedern anzunehmen, die von Alten und Kranken aber deutlich abzulehnen. So beträgt die Ablehnungsquote für eine Kur nach einer Operation 19,4 Prozent, bei Hilfsmitteln wie beispielsweise Windeln bei Inkontinenz sogar 24,5 Prozent.
Im Gegensatz dazu zeigen sich die Kassen hingegen bei den Ausgaben für Werbung deutlich großzügiger. Gaben Barmer, DAK, AOK und Co. 2012 noch 136 Millionen Euro für Werbung aus, waren es 2016 bereits 172 Millionen. Die Aufsichtsbehörde kritisiert dabei auch die Art der Werbung, die sich „massiv“verändert habe. „Während früher Werbemaßnahmen einen aufklärenden Inhalt hatten, herrscht heute eine Strategie um das Festigen der ,Marke‘ durch Fernsehspots, Plakatwerbung oder Sponsoring von sportlichen Events und Präsenz in Social Media.“
Ein Dorn im Auge des Versicherungsamtes sind die zum Teil sehr hohen Wechselprämien, um Mitglieder von anderen Kassen anzulocken. Einige Kassen würden in Kombination mit Wahltarifen bis zu 900 Euro an Prämien zahlen und diese im Einzelfall sogar als Sofortbonus im Voraus ausbezahlen, „obwohl dieser Bonus eigentlich nach den Satzungsregelungen der Kranhäufiger kenkassen erst nach erfolgreicher Teilnahme an Sportveranstaltungen, Früherkennungsmaßnahmen etc. ausgezahlt werden darf“. Externe Werber, die neue Mitglieder für die Kassen gewinnen, würden nur für Junge und Gesunde Prämien erhalten, nicht jedoch für Hausfrauen oder Rentner.
Ausdrücklich monieren die Prüfer außerdem die Kooperation der Kassen mit Dritten, bei der den Versicherten Rabatte beim Einkauf gewährt werden. Das gehöre „nicht zu den gesetzlichen Aufgaben einer Krankenkasse“. Besonders problematisch sei, wenn Kassen mit bis zu 2000 Kooperationspartnern Rabatte
Rabatte für Golfkurse und Döner Restaurants
vereinbaren, von denen die meisten keinerlei Gesundheitsbezug hätten. „So wurden in der Vergangenheit Rabatte in Solarien, Döner-Restaurants oder bei Reifenhändlern vermittelt“, heißt es in dem Prüfbericht. „Auch das Vermitteln von Rabatten zur Erlangung der Golfplatzreife oder für ein Facelifting hat das Bundesversicherungsamt 2016 beanstandet.“
Dass die Krankenkassen gleichzeitig ihr Filialnetz „drastisch“verkleinern und ihre Internetseiten ausbauen, gehe ebenfalls zulasten der älteren Patienten, die keinen Internetanschluss haben, kritisiert die Aufsicht. Das sei zwar kostengünstiger, trage aber auch „zur indirekten Risikoselektion“bei: „Während junge, gesunde und technikaffine Versicherte von den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung oftmals geradewegs angezogen werden, fällt es vor allem multimorbiden und älteren Patienten schwerer, die neuen Medien zu nutzen.“