Vom Kassierer zum Nationaltrainer
Jorge Sampaoli ist einer der ungewöhnlichsten Trainer der Fußball-WM. Mit Argentinien droht dem Erfolgsverwöhnten nun aber eine historische Schmach
Es gibt eine Geschichte über Jorge Sampaoli, die viel über das Wesen des heutigen Trainers der argentinischen Nationalmannschaft aussagt. Als er in den 90er Jahren Trainer des Dorfvereins CA Alumni war, verwies ihn der Schiedsrichter in einem Spiel des Feldes. Um seiner Mannschaft weiterhin Anweisungen geben zu können, stieg Sampaoli auf einen Baum, der hinter einem Zaun in der Nähe des Spielfelds stand. Mit einer Sonnenbrille getarnt coachte er sein Team trotzdem weiter. Ein Foto des hartnäckigen Trainers machte damals in Argentinien die Runde. Der Legende nach war es das Bild, das Sampaoli seinen ersten Job bei einem Profiklub verschaffte: Die Vereinsführung der Newell’s Old Boys war so beeindruckt von ihm, dass sie ihm einen Posten als Trainer der zweiten Mannschaft gab.
Sampaolis Geschichte ist gespickt mit Anekdoten dieser Art. Der 58-Jährige, der seine Fußballkarriere wegen eines Schien- und Wadenbeinbruchs früh beenden musste, hatte sich eigentlich geschworen, es mit dem Fußball sein zu lassen und arbeitete stattdessen als Kassierer in einer Bankfiliale. Von einer Karriere als Fußballtrainer war er weit entfernt – bis er von Marcelo Bielsa dazu inspiriert wurde. Sampaoli entwickelte eine fast manische Bewunderung für den Trainer, als dieser die erste Mannschaft von Newell’s betreute. Als er später Coach Argentiniens wurde, verfolgte Sampaoli die Trainingseinheiten mit einem Fernglas und hörte sich die Pressekonferenzen seines Idols beim Joggen an.
Die bedingungslose Hingabe, mit der der lange Zeit belächelte Außenseiter seinen Job machte, schien sich auszuzahlen: Nach Posten bei Klubs in Peru, Ecuador und Chile wurde Sampaoli 2012 Trainer der chilenischen Nationalmannschaft. Mit der Mannschaft warf er bei der WM 2014 den damaligen Weltmeister Spanien aus dem Turnier und gewann 2015 die Copa América, das südamerikanische Pendant zur Europameisterschaft. Die Krönung seiner Karriere schien im Sommer 2017 zu folgen: Der argentinische Verband berief den Vater zweier Kinder als Nationaltrainer. Doch die Arbeit mit Superstar Lionel Messi war von Anfang an schwierig. Nur mit Mühe gelang die Qualifikation. Bei der Weltmeisterschaft steht die Mannschaft nach zwei von drei Spielen vor dem Aus. Gegen Nigeria (20 Uhr, ARD) muss ein Sieg mit Schützenhilfe der Kroaten gegen Island her. Die Stimmung zwischen Trainer und Mannschaft gilt als stark belastet. Zu Messi sagte Sampaoli: „Ich habe ihm bei WhatsApp eine Nachricht geschickt und ihm gesagt, dass er auf mich zählen kann. Er hat es gelesen und nicht geantwortet.“Sarkastisch fügte er hinzu: Messi mache die Aufstellung, Mitspieler Mascherano gebe die Anweisungen. Sampaoli könnte nun eine weitere Parallele zu seinem Idol Bielsa schaffen – wenn auch eine ungewollte. Als Argentinien bei der WM 2002 letztmals in der Vorrunde scheiterte, war Marcelo Bielsa der Trainer. Florian Eisele