Der Angriff auf das Abendland
Salzburger Festspiele Ulrich Rasche, der Theatermann der Stunde, inszeniert überwältigend das älteste Stück der Welt: Athens Sieg über „Die Perser“. Damit beginnt die Geschichte Europas
Salzburg Am Anfang der Theatergeschichte wartet ein Krieg – Perser gegen Griechen, ein despotischer König gegen den demokratischen Stadtstaat Athen, Morgenland gegen Abendland, Asien gegen Europa, Goliath gegen David. Denn zahlenmäßig sind die Perser unter ihrem Herrscher Xerxes den Griechen aus Athen und ihren Verbündeten haushoch überlegen. Dann aber meint es das Schicksal mit den Persern in dieser Meerenge von Salamis denkbar schlecht: Erst geht Schiff um Schiff verloren, dann der Mut, dann die Schlacht, dann der Feldzug. Um 480 vor Christus spielt sich dieses Kriegsdrama ab. Was danach beginnt, ist ein völlig unwahrscheinliches Kapitel Geschichte: Athen erlebt ein knappes Jahrhundert Demokratie, eine erste Blütezeit der Philosophie, der Künste und des Theaters. Die Geschichte Europas beginnt.
Den ersten Bericht über die Schlacht hat Aischylos, der Urvater der Dramatik, geschrieben. Er selbst hat in Salamis gekämpft, sein Bruder ist gefallen. Acht Jahre später bringt Aischylos diesen völlig unwahrscheinlichen Sieg der Griechen auf die Bühne – aus der Perspektive der Geschlagenen. Aischylos steigert in „Die Perser“den Schrecken: Die Königsmutter Atossa ahnt das Unglück in ihren Träumen, ein persischer Bote malt die Niederlage in schwärzesten Farben aus, aus der Unterwelt wird Dareios beschworen, der seinem Sohn Xerxes Hochmut und Hybris vorwirft, am Schluss taucht der Geschlagene selbst auf, der sich vom Schlachtfeld davongeschlichen hat. Als er in Susa, der Perser-Hauptstadt, erfasst, was geschehen ist, stimmt er in eine große Wehklage ein. Heute wirkt das wie ein Antikriegs-Stück. Und raffiniert: Den Krieg aus der Perspektive der Opfer zu erzählen. Allerdings sollte man sich nicht einbilden, dass die Griechen vor 2500 Jahren in Athen vor Mitleid mit den Persern vergingen. Eher schon werden sie – acht Jahre nach dem Sieg – noch einmal über ihren Triumph gejubelt haben.
Nun schließen Aischylos’ „Die Perser“den Premierenreigen der Salzburger Festspiele. Auf die Bühne bringt die Tragödie Ulrich Rasche – dessen eigene Regisseursgeschichte ähnlich unwahrscheinlich wie dieser Griechensieg vor 2500 Jahren ist. Rasches Theaterstern ging erst spät auf, dafür aber gewaltig. Rasche, Jahrgang 1969, besetzt gerade allein eine Gegenposition im Theater: Ironiefrei geht er an seine Stoffe heran, das Individuum wird im Chor aufgelöst. Alles wird einzig und allein vom Text und dessen Rhythmus her gedacht. Dazu müssen sich die Schauspieler auf riesigen Laufbändern oder gewaltigen Drehbühnen verausgaben. Unterlegt und vorangetrieben wird das mit Musik. Ein Generalangriff auf die Sinne, oft auch auf die Geduld, immer aber Überwältigungstheater.
Rasche bleibt sich auch an diesem Abend im Landestheater Salzburg treu. Zwei große Drehscheiben rotieren, die hintere ist schwenkbar und mehrfach unterteilt, dass dort die Schauspieler wie auf Planetenbahnen kreisen können. Vibrafon, Marimbafon, eine tiefe Trommel, eine Bratsche und elektronische Klänge geben den Takt vor. Gesprochen wird langsam, Silbe für Silbe, so deutlich, wie es im Theater selten zu hören ist. Nichts von dieser Niederlage soll verloren gehen.
Die Frauen, die auf der vorderen Drehbühne gegen das Schicksal anlaufen, treiben das Geschehen voran – sie wollen wissen, was in Griechenland geschehen ist. Mit Patrycia Ziolkowska (Atossa), Katja Bürkle und Valery Tscheplanowa (Chor des persischen Ältestenrats) stehen drei außergewöhnliche Schauspielerinnen auf der Bühne, die sich ganz in den Dienst dieser vierstündigen Choreografie stellen.
Wenn im Hintergrund auf dem Schwungrad das erste Mal der Männerchor aus dem Schatten und Nebel tritt, dort gemeinsam marschiert, reißt das förmlich aus den Sitzen. Rasche hat in seinen Inszenierungen keine Angst davor, das Martialische, das mit einem Kollektiv so leicht entfesselt werden kann, zu zeigen. Aber die fast 20 Männer im Brustgeschirr und Lendenschurz, die in diese Seeschlacht hi- neingezogen worden sind, marschieren ins Verderben. Wofür neue Bilder gefunden werden, wenn alle nicht mehr gemeinsam um den Mittelpunkt der Bühne rotieren, sondern nur noch um das direkte Gegenüber. Ein grandiose Szenerie entsteht allein aus Licht und Schatten, der Drehbühne und Bühnennebel. Meeresuntiefen öffnen sich, in denen die Perser ertrinken. Am Schluss stimmt Xerxes (Johannes Nussbaum), der Geschlagene, die große Klage an, in die alle Darsteller einstimmen. Es dauert, bis der Jubel sich im Landestheater einstellt, Jubel nicht aus Freude über den Sieg, sondern weil in dieser modernen Fassung der Niederlage so viel zu sehen und erkennen ist.
Rasches Bilder wirken nach. Es geht ihm in diesem und anderen Stücken nicht um die psychologische Befindlichkeit des Einzelnen, sondern um die Mechanik der Gesellschaft. Damit ist sein Theater immer schon nah bei den alten Griechen, die sich dort auf der Bühne ihrer kollektiven Entscheidungen versicherten. Die Gesellschaft, die Rasche zudem vorführt, hat gar nicht die Zeit, sich einen idealen Zustand zu überlegen. Das Räderwerk der Geschichte mahlt ständig. Aber: Die Menschen finden bei ihm trotzdem zu einer gemeinsamen Stimme, zu Worten, Sätzen und Gedanken.
Und: Wer das selbst sehen möchte, hat dazu nicht nur in Salzburg Gelegenheit. Die Produktion wird im Schauspiel Frankfurt in der kommenden Spielzeit gezeigt.
Drei außergewöhnliche Schauspielerinnen