Die Bahn bleibt eine Großbaustelle
Verkehr Konzernchef Richard Lutz rechnet in einem Brandbrief schonungslos mit seinen Führungskräften ab. Die schwierige Unternehmenslage droht sich noch weiter zu verschärfen
Schrumpfende Gewinne, immer mehr unpünktliche Züge, wachsende Schulden: Der Vorstand der Deutschen Bahn hat in einem vierseitigen Brandbrief die schwerwiegende Problemlage aufgezeichnet, in der sich das Staatsunternehmen befindet. Die Situation der Bahn habe sich in den vergangenen Monaten „nicht verbessert, sondern verschlechtert“, schreibt Konzernchef Richard Lutz darin. Die Führungskräfte des Unternehmens schwört er inständig auf bessere Zusammenarbeit ein.
Als ein Hauptproblem nennt Lutz die Pünktlichkeit im Fernverkehr: Sie sei „weiter abgerutscht“und habe im August nach kontinuierlichem Rückgang bei nur 76 Prozent der Fernzüge gelegen – ein schlechterer Wert als im Jahr 2015, als die Bahn das Projekt „Zukunft Bahn“ins Leben gerufen hat. „Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit ist außerdem klar, dass wir 2018 weder die Vorjahreswerte und schon gar nicht unser Ziel erreichen werden“, schreibt Lutz. Die erklärte Vorgabe war es, dass vier von fünf Fernzügen mit weniger als sechs Minuten Verspätung in ihren Zielbahnhöfe eintreffen sollten. „Eigene Themen wie die Fahrzeugverfügbarkeit haben wir schlicht nicht im Griff“, bemängelt er. Zu viele Züge müssten wegen eines Defekts ausfallen.
Was diese Missstände für die Passagiere bedeuten, weiß Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbands Pro Bahn. Dort gehen regelmäßig Erfahrungsberichte verärgerter Bahnkunden ein. „Bei uns hat sich seit längerer Zeit niemand mehr lobend geäußert“, sagt Naumann. Dennoch plädiert er für Fairness – in vielen Fällen sei die Unpünktlichkeit der Züge auf umgestürzte Bäume oder andere äußere Faktoren zurückzuführen. Wirklich ärgerlich sei aber, dass viele Bahnfahrer auf Reisen nur mangelhaft oder überhaupt nicht über alternative Routen und Züge informiert würden. „Über das Informationssystem und den Service beschweren sich weit mehr Kunden als über die Unpünktlichkeit der Züge“, sagt Naumann.
Der Analyse des Vorstandschefs Lutz stimmt der Vorsitzende des Fahrgastverbands aber zu. In den Zugausfällen sieht auch Naumann ein Hauptproblem. „Einige Triebfahrzeuge sind sehr anfällig und wartungsintensiv, dafür fehlt ständig Geld“, sagt er. Naumanns Ansicht nach werde die Bahn „kaputtreguliert und kaputtgespart“. Der Sparkurs verursache einen Großteil der Ausfälle. Als Beispiel führt er die Ausgaben einiger Nachbarländer an, in denen das Budget pro Jahr und Fahrgast um ein Vielfaches höher liege, weswegen die Probleme dort geringer ausfielen. Auch veral- tete Streckenabschnitte nennt er als Problem, nimmt die Bahn jedoch in Schutz. Für die schleppende Modernisierung der Strecken sieht Naumann auch die Öffentlichkeit in der Verantwortung: „Bürgerbeteiligung ist richtig, doch die Abwehrhaltung einiger Menschen gegen Streckenausbauten ist zum Teil schlicht irrational.“
Im Schreiben des Bahnvorstands ist auch vom Rückgang der Gewinne die Rede. Diese lägen „deutlich unter dem Vorjahr und weit weg von unserer Zielsetzung“, wie es in dem Brief weiter heißt. Das Defizit sei bereits auf rund 160 Millionen Euro angewachsen. Damit rückt die bereits auf 2,1 Milliarden Euro reduzierte Zielvorstellung weiter in die Ferne. Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn führt die fehlenden Gewinne auf Rabattschlachten mit der Konkurrenz zurück. „Fernbusse und Billigflieger unterbieten sich gegenseitig mit Angeboten, das drückt die Preise“, sagt Naumann. Trotz steigender Fahrgastzahlen könne man so auf Dauer die notwendigen Investitionen nicht decken.
Aus diesem Grund hat der Vorstand in seinem Schreiben eine strenge Kostenkontrolle beschlossen. Die Maßnahme gelte ab sofort und bis auf Weiteres, schreibt Lutz. Notwendige Ausgaben für den laufenden Betrieb und für alle Anstrengungen, „die wir im Sinne Kunde, Qualität, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit unternehmen, laufen selbstverständlich weiter“.
Die kritische Lage der Bahn ruft auch die Politik auf den Plan. Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag und Vorsitzender des Verkehrsausschusses, sieht die Bundesregierung in der Pflicht: „Die katastrophale Situation der Deutschen Bahn ist das Ergebnis einer ambitionslosen, ignoranten und hemdsärmeligen Bahnpolitik der Union in den vergangenen Jahrzehnten“, sagt Hofreiter. Seiner Ansicht nach müsse die Regierung kräftig in das Netz investieren und sich als alleiniger Eigentümer im Aufsichtsrat besser durchsetzen. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer wollte sich auf Anfrage unserer Redaktion nicht zur aktuellen Situation der Bahn äußern.
Von Schuldzuweisungen sieht Bahnchef Lutz in seinem Brandbrief ab – „das bringt uns nicht weiter“, erklärt er in der letzten Passage des Schreibens. Er ruft dazu auf, zusammenzustehen und gemeinsam zu kämpfen. Auf lange Sicht müssten die Führungskräfte Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen. Zudem gelte es, die Zusammenarbeit zu stärken – derzeit werde „Verantwortung hin- und hergeschoben“. Insgesamt sei der Vorstand jedoch überzeugt, dass „wir diese schwierige Situation überwinden“werden.