Wie die DDR ihm den Sohn stahl
Schicksal Andreas Laake will 1984 mit seiner Frau in den Westen fliehen. Doch sie werden erwischt. Der Leipziger landet im Gefängnis. Und sein Kind bei einer fremden Familie. Jahrelang bestimmt die Suche nach Marko sein Leben. Bis das Telefon klingelt
Leipzig Andreas Laake wird diesen Abend nicht vergessen. Den Moment, als er mit seiner Frau Antje und den Kindern auf dem Sofa sitzt, fernsieht und das Telefon klingelt. „Hallo?“, fragt Laake in den Hörer. Keine Antwort. Er will auflegen. Dann überkommt ihn ein Kribbeln. „Marko, bist du es?“Eine kurze Stille. „Ja.“„Mein Marko?“, fragt Laake ungläubig. „Ja.“Fast drei Jahrzehnte hat der Leipziger gewartet, diese Stimme zu hören. Es ist die Stimme seines Sohnes: das Kind, das die DDR ihm weggenommen hat.
Seine Geschichte, so viel weiß der 58-Jährige heute, ist kein Einzelfall. Anderen Ddr-bürgern, die sich gegen das Regime stellten, ging es ähnlich. Es konnte eine Mutter sein, die nicht arbeiten wollte. Eltern, die einen Ausreiseantrag stellten. Oder eben Väter, die wie Laake wegen Republikflucht inhaftiert waren.
In Laakes Fall beginnt die Geschichte im April 1984. Er ist 24 Jahre alt, seine erste Frau Ilona schwanger. Beide wollen dem Kind ein besseres Leben ermöglichen. Sie beschließen, aus der DDR zu fliehen – sobald wie möglich, bevor Ilonas Babybauch sie daran hindert. „Wir sagten: Entweder wir machen es jetzt oder das wird nie wieder was.“
Sie fahren an die Ostsee, nach Graal-müritz bei Rostock. Mit einem Schlauchboot wollen sie von dort aus in den Westen. Ein gefährliches Unterfangen – bis Travemünde sind es mehr als 100 Kilometer. Und nur eine raue See garantiert, dass sie ungesehen an den Patrouillen vorbeikommen. In der Nacht auf den 11. April 1984 scheinen die Bedingungen ideal: Die Wellen sind hoch, die Nacht sternenlos.
Nach vier bis fünf Stunden sind die beiden am Ende ihrer Kräfte. Sie sind durchnässt, haben jegliche Orientierung verloren. Bis sie einen Frachter sehen, der auf sie zukommt. Sie sind sich sicher: Wir haben es geschafft. Wir werden gerettet. In diesem Moment rasen zwei Schnellboote heran. Es ist die Ddrküstenwache, die auf sie zusteuert. Das Schlauchboot kippt. Laake und seine Frau landen im offenen Meer. Mit letzter Kraft retten sie sich auf eines der Boote. Sie werden unter Deck gesperrt, dann getrennt. Es wird Jahre dauern, bis das Paar sich wiedersieht.
Andreas Laake will seine schwangere Frau vor der Inhaftierung bewahren. Er nimmt alle Schuld auf sich. Nun ist Laake Republikflüchtling, ein Staatsfeind der DDR. Er wird zu vier Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt.
Alle zwei Monate darf er Besuch im Gefängnis empfangen. Im Oktober 1984 kommt seine Mutter vorbei. Sie sagt: „Alles gut“, und lächelt. „Und da wusste ich, Marko ist auf der Welt“, erzählt Laake heute. Drei Monate später erhält er einen Brief vom Jugendamt Leipzig. Darin wird er aufgefordert, zuzustimmen, dass sein Sohn zur Adoption freigegeben wird. „Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt.“Er will, dass seine Mutter, Schwester oder Tante die Vormundschaft für Marko bekommen, der zu dieser Zeit im Kinderheim und zeitweise bei Pflegeeltern lebt. Die Behörden lehnen ab.
Was er nicht weiß: Seine Frau hat nicht nur mit ihm abgeschlossen. Sie hat bereits eine Einwilligungserklärung unterschrieben und Marko zur Adoption freigegeben. Ein Jahr nach der missglückten Flucht erhält er Post von ihr: die Scheidungspapiere. Vor Gericht wird ihm die Vaterschaft aberkannt, drei Minuten dauert der Prozess. Für Laake bricht in diesem Moment eine Welt zusammen. Heute ist er überzeugt: „Der Richter hat noch nicht einmal das Urteil unterschrieben, da war Marko schon adoptiert.“
Historiker Christian Sachse beschäftigt sich seit Jahren mit Zwangsadoptionen – einem wenig erforschten Kapitel der Ddr-geschichte. Wobei das Wort „Adoption“fast schon zynisch klingt. Denn tatsächlich hat das Sed-regime politisch unliebsamen Eltern ihre Kinder entrissen und sie an Paare vergeben, die dem sozialistischen Staat treu waren. Es hat Menschen wie Laake den Sohn gestohlen.
Sieben Fälle sind derzeit gesichert. Doch Sachse ist überzeugt, dass die Zahl der Zwangsadoptionen wesentlich höher liegt. In einer Vorstudie gehen Experten von etwa 340 Fällen von Zwangsadoption während des Sed-regimes aus. Ob Väter und Mütter in eine Adoption unter Zwang einwilligten oder nicht, das ist knapp 30 Jahre nach dem Ende der DDR nicht immer eindeutig. „Es gab die Möglichkeit, Mütter zu einer quasi freiwilligen Aussage zu zwingen“, erklärt Sachse. Gab es – wie im Fall von Laake – keine Einwilligung zur Adoption, griffen die Behörden zu anderen Methoden. „Vormundschaftsgerichtliche Ersetzung der elterlichen Adoptionseinwilligung“, wie Sachse erklärt. Ein Instrument, das heute zum Einsatz kommt, wenn das Jugendamt das Kindeswohl gefährdet sieht. Doch in der DDR wurde das „politisch angewandt“, sagt der Historiker.
Marko kommt zu einem regimetreuen Ehepaar. Die Mutter ist Schuldirektorin, sie erzieht Marko im sozialistischen Sinne. Währenddessen lebt Laake in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-gröden, teilt sich die Zelle zeitweise mit 15 anderen Häftlingen. Tagsüber kehrt er im Getriebewerk Späne zusammen. Trotzdem verliert er jegliches Zeitgefühl. Heute sagt er: „Ich habe die Haft überlebt, weil ich überzeugt war, dass ich Marko wiederfinde.“
Im Dezember 1988 wird Laake entlassen. Seine Mutter wartet vor dem Tor auf ihn. In der Hand hält sie ein Foto. Es zeigt ein Neugeborenes, das friedlich schläft, mit Schläuchen in der Nase. Es ist der Moment, in dem Andreas Laake zum ersten Mal ein Bild seines Sohnes sieht. Marko war eine Frühgeburt.
Andreas Laake ist in Freiheit, aber längst nicht befreit. Er muss suchen, er muss seinen Marko finden. Laake fährt Kindergärten in Leipzig und Umgebung ab. Beobachtet die Buben auf den Spielplätzen. „Ich war überzeugt, wenn ich mein Kind sehe, erkenne ich es sofort.“Doch was er nicht wissen kann: Marko lebt zu dieser Zeit in einem Berliner Vorort. Dann kommt der 9. November 1989. Laake hofft, dass die Wende seine Suche erleichtert. Es gelten neue Gesetze, er wird als politischer Häftling rehabilitiert. Doch ein Behördengang zerstört seine Hoffnungen. Auch im vereinten Deutschland sitzt dieselbe Sachbearbeiterin im Jugendamt. „Genau die, die mir meinen Marko weggenommen hat.“Wenn der hagere Mann das heute erzählt, liegt noch immer Empörung in seiner Stimme. Das Misstrauen gegenüber dem Staat bleibt.
Laake wendet sich an Politiker, zahlt über 10000 Euro an Detektivbüros. Schließlich wendet er sich in seiner Verzweiflung an die Medien. Das berichtet über sein Schicksal, will deswegen im Leipziger Jugendamt drehen. Doch die Behörde entzieht dem Sender kurzfristig die Drehgenehmigung. Die Leiterin bittet Laake, alleine zu kommen. Dort erhält er einen Umschlag. Darin Fotos aus Markos Kindheit und ein Zettel, auf dem steht: 20. Oktober 1984. „Es war für mich der erste Beweis, dass ich einen Sohn habe“, sagt Laake heute. Mit dem Geburtsdatum und den Bildern kann er präzisere Nachforschungen anstellen.
Doch die Suche bleibt über Jahre erfolglos. Bis zum 6. Oktober 2013. Laakes Fall läuft in der Sat.1-sendung „Julia Leischik sucht: Bitte melde dich“. Dort startet der Vater einen Aufruf mit allen Hinweisen, die er hat: Vorname, Geburtsdatum, ein paar Bilder. Es ist nicht viel. „Ich hatte wenig Hoffnung, dass es klappt“, sagt der 58-Jährige heute.
Dann, einen Tag, nachdem die Sendung ausgestrahlt wurde: der Anruf, der Laakes Leben verändert. Zum ersten Mal kann er mit seinem Sohn sprechen. Und sie wollen sich sobald wie möglich sehen.
Am Wochenende darauf wartet Laake mit Antje, seiner zweiten Ehefrau, am Parkplatz vor dem Leipziger Hauptbahnhof. „Da waren zighundert Leute auf dem Platz.“Aus einem Auto steigt ein junger Mann. „Da hinten kommt Marko“, sagt Laake zu seiner Frau. Obwohl er Marko noch nie als erwachsene Person gesehen hat. Und tatsächlich ist der große, schlaksige Mann sein Sohn. 29 Jahre hat es gedauert, bis Laake seinem Kind in die Augen blicken, es in die Arme schließen kann. 24 Jahre nach dem Mauerfall sind Vater und Sohn vereint. Es könnte alles so schön sein.
Es könnte. Doch die Mauern der DDR sind längst nicht eingerissen.
Mit dem Schlauchboot wollen sie in den Westen paddeln
Er hat Marko nie gesehen, aber erkennt ihn gleich
„Marko war eine fremde Person für mich“, sagt Andreas Laake und fügt hinzu: „Da war wie eine Mauer zwischen uns.“Auch für den Sohn ist Andreas Laake ein völlig fremder Mensch. Er wusste zwar, dass seine leiblichen Eltern ihn weggegeben haben. Von den genauen Umständen aber hatte er keine Ahnung. Zum ersten Treffen in Leipzig bringt Markos Adoptivvater ein Fotoalbum mit. Darin: Markos Kindheit auf 9 mal 13 Zentimeter. Andreas Laake kann die Bilder nicht anschauen. „Es waren keine Bilder aus meinem Leben“, erklärt er.
Über Jahre hat Andreas Laake all seine Energie in die Suche nach seinem Sohn gesteckt. Heute möchte er nur eines: „Ich will am Rande von Markos Leben stehen und zugucken.“Für Marko kann er nicht der Vater sein, der er gerne gewesen wäre. Zu viel ist passiert, zu viel Zeit vergangen, die beide voneinander trennt. Aber es genügt ihm zu wissen, dass es Marko gut geht und dass sie sich wiedersehen können.
Andreas Laake hat vier weitere Kinder, die er über alles liebt. Er ist Hausmann, kümmert sich um die Erziehung. Die Beziehung zu Marko kann nie so eng werden, sagt er. Sie sehen sich an Geburtstagen, Weihnachten und Familienfesten. „Doch er hat sein Leben und ich habe meines.“Eine kurze Pause, dann fügt er hinzu: „Und das ist auch gar nicht negativ gemeint. Unsere Lebenslinien sind einfach auseinandergegangen.“
Warum er all die Kosten und Mühen auf sich genommen hat, um einen Menschen zu finden, den er nie zuvor gesehen hat? „Weil es mein Kind ist“, sagt Laake. Die Augen des 58-Jährigen gleiten auf das Schwarz-weiß-foto. Das Bild von Marko als Baby.