Schöne Tage auf der Herreninsel
Die Stunde null hatte man hinter sich gelassen, aber die neue Bundesrepublik gab es noch nicht. Es wurde Zeit, die Besatzungszonen zu einer staatlichen Einheit zusammenzuführen. Aber wie und wo? Deutschland lag in Schutt und Asche. Gab es irgendwo ein Plätzchen, wo die klügsten Köpfe des Landes in ungetrübt schöner Umgebung eine gemeinsame Verfassung diskutieren konnten? Ja: In Bayern, am Chiemsee, auf der grünen, von Bomben verschont gebliebenen Herreninsel, konnte das Werk gelingen. Es wurden schöne Inseltage.
Drei Polizisten sicherten die elf Herren (Frauenanteil: null) und ihre Berater (Frauenanteil: null) unauffällig bei ihrer Arbeit ab. Den Rest besorgte die Insellage. Frauen und Kinder waren – inoffiziell – mit von der Partie. Für das leibliche Wohl der geistigen Schöpfer unserer Bundesrepublik war bestens gesorgt: Es gab mehrere Mahlzeiten am Tag, dazu täglich pro Mann einen Liter Bier oder eine halbe Flasche Wein, außerdem drei Zigarren oder ein Dutzend Zigaretten, ebenfalls pro Tag und Person. Die zweiwöchige Tagung im prächtigen Ludwig-Schloss kostete knapp 50000 DM. So entstand der Entwurf für das Grundgesetz, das die Basis für die stabilste Demokratie der deutschen Geschichte legte.
Was damals als reichlich empfunden wurde, war nach heutigem Maßstab ein Schnäppchen. Drei Dorfpolizisten, etwas Wein oder Bier, ein bisschen blauer Dunst, alles zum Preis eines Kleinwagens? Man war im Jahr 1948, drei Jahre nach Kriegsende, etwas weniger verwöhnt als heute.
Wie würde ein solches Treffen heute aussehen? Das Ganze würde Millionen verschlingen. Hundertschaften weithin sichtbarer Sicherheitskräfte würden die Insel durchkämmen und dann zu Land, zu Wasser und in der Luft abriegeln. Die Verköstigung wäre edler und ernährungswissenschaftlich geprüft. Die Glimmstängel müssten draußen vor der Tür geraucht werden. Das Nachkriegs-Idyll hatte eine Schattenseite: Am Chiemsee fanden sich nur drei der vier Besatzungszonen zusammen. Die geistige Grundlage der Bundesrepublik, die dort gelegt wurde, war zugleich die politische Grundlage der Teilung Deutschlands. Erst vier Jahrzehnte später konnten auch die Ostdeutschen dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten, das damals am Chiemsee sozusagen für einen Apfel und ein Ei entworfen worden war.