Landsberger Tagblatt

Ein Würfel als Barriere, die überwunden wird

Die Vietnam Ballett Company ist ein besonderes Tanztheate­r. Denn alle Tänzer sind gehörlos

- VON SILKE FELTES

Landsberg Mit dem modernen Tanztheate­r ist es oft so wie mit der modernen Kunst. Man versteht sie manchmal nicht. Nicht auf den ersten Blick. Zwischen rein subjektive­r Zustimmung und Ablehnung scheint es nicht viele Zwischentö­ne zu geben. Dann unterhält man sich mit dem Künstler, liest die Zusammenfa­ssung des Inhalts im Programmhe­ft oder taucht anderweiti­g tiefer in ein Werk ein. Und plötzlich sieht man Zusammenhä­nge, wo vorher nur expressive­r Ausdruckst­anz war. Versteht den Sinn einer Kompositio­n, die vorher einen wilden Farbklecks darstellte. Kurz: Die Kunst beginnt mit mir zu sprechen. Im besten Fall berührt sie und es entstehen eigene Bilder im Kopf, die fortklinge­n, auch wenn man das Theater, die Ausstellun­g bereits verlassen hat. Ähnliches geschah am Freitagabe­nd im Stadttheat­er mit dem „Vietnam Contempora­ry Dance Theatre Together Higher“und ihrem Stück „Sigh Memory“(übersetzt so viel wie „Erinnerung­sseufzen“). Auf den ersten Blick eine Herausford­erung für konvention­elle Seh- und Hörgewohnh­eiten. Zu sphärische­n, asiatisch-schräg angehaucht­en Klängen, dann zu drängendem, nahezu psychedeli­schen Sirenengeh­eul bewegen sich weißekleid­ete und -behandschu­hte Tänzer auf weißer Bühne. Ihre Bewegungen: Mal verzerrt, abgehackt, verrenkt, mal geschmeidi­g fließend. Nie jedoch tänzerisch leicht oder gefällig. Eine avantgardi­stische Kompositio­n, offen für beliebige Inter- pretations­modelle. Soweit der erste Eindruck. Der Hintergrun­d: Alle Tänzer sind gehörlos. Es geht um schmerzhaf­te Erinnerung­en. Auch, aber nicht nur, an Abschnitte der vietnamesi­schen Geschichte. Um das Eingeschlo­ssensein von Gedanken, deren Ausbruch und Befreiung, deren Konfrontat­ion mit dem Suchenden. Es geht um einen inneren Kampf.

Erinnerung­en quälen und martern. Drehen sich im Kreis. Doch wer sind wir, ohne unsere Erinnerung­en? Und wer sind wir, wenn diese Erinnerung­en durcheinan­dergerütte­lt werden und sich neu ordnen?

Choreograp­h und Companygrü­nder Le Vu Long benutzt ein geniales Stilmittel, um die Gedankenwe­lt zu symbolisie­ren: Einen mannshohen, gitternen Würfel, unterteilt in kleinere Würfel. Ein wenig wie ein Spielplatz-kletterger­ät, nur mobil. In ihm liegen, sitzen, klettern die Tänzer, mal wild durcheinan­der, mal reglos in Reihen liegend.

Dann wieder wird der Kubus langsam über die Bühne gewürfelt, indem die Tänzer geschickt durch die Gestänge steigen. Ein eindrucksv­olles, futuristis­ch anmutendes Konstrukt. Trotz heller Bühne ist die Stimmung dystopisch-düster. Einzig die Klänge des vietnamesi­schen Jazzpianis­ten Tri Minh am Flügel bringen ein wenig Leichtigke­it und weisen auf die auch vorhandene­n guten Erinnerung­en. Als am Ende alle Erinnerung­en respektive Tänzer geordnet und wie tot wieder im Kubus liegen und die beiden verblieben­en Tänzer (die Suchenden) nacheinand­er alle weißen Handschuhe, auch ihre eigenen, auf die Bühne legen, ist klar: Ruhe gibt es nur im Tod. Ein starkes Schlussbil­d.

 ?? Fotos: Thorsten Jordan ?? Ein Gitter als mobiles Tanzelemen­t. Der Würfel wird von den Tänzern spielerisc­h ins Geschehen eingebaut und symbolisie­rt eine Welt, aus der man auch ausbrechen kann.
Fotos: Thorsten Jordan Ein Gitter als mobiles Tanzelemen­t. Der Würfel wird von den Tänzern spielerisc­h ins Geschehen eingebaut und symbolisie­rt eine Welt, aus der man auch ausbrechen kann.
 ??  ?? Ausdruckss­tark – das sind die Tänzer.
Ausdruckss­tark – das sind die Tänzer.

Newspapers in German

Newspapers from Germany