Die Frage der Woche
Socken mit Löchern gleich wegwerfen?
Für jemanden, der alles aufhebt und sehr vieles sammelt, ist die Erfahrung des Wegwerfens unglaublich wichtig. Denn jede Trennung ist ein Hoffnungsschimmer: Vielleicht endet man doch nicht als Messie. Umkehr ist möglich. Insofern können Socken mit Löchern eine zentrale Bedeutung bekommen – als Rettungsanker, als ein Vorbild, wie es auch gehen kann mit den Dingen des Lebens.
Socken eignen sich besonders für die Umkehr von Menschen, die Probleme haben, sich von Habseligkeiten zu verabschieden. Der Socken-mit-LöchernWegwerfer durchläuft dabei verschiedene Stadien – man könnte auch Reifezustände sagen. Es beginnt damit, dass man die kaputten Socken nicht zurücklegt in die Socken-Schublade, sondern aussortiert. Im Falle des Sammlers gibt es dann ein klassisches Verzögerungsmoment. Sind solche Socken mit Löchern nicht ideale Schuhputztücher? Dafür sind die noch gut. Also: ab damit in die Schuhputzkiste unter der Spüle. Doch irgendwann, mit den Jahren, bemerkt der Sockenbewahrer, dass er schon ein halbes Dutzend Socken so zu Poliertüchern umgewidmet hat. Und jetzt kommt der entscheidende, befreiende, erlösende Schritt: Die nächsten Socken mit Löchern, die einem in die Hände fallen, landen sofort in der Mülltonne. Weg damit! Direkter Weg! Für einen Bewahrer ist das eine großartige Erfahrung. Denn so sensibel der Halb-Messie auch in sich hineinhorcht: Ein Trennungsschmerz stellt sich nicht ein, auch keine Sehnsucht nach den Löchern und dem Sockenrest drumherum. Sind die Socken erst einmal im Müll, zeigt sich, dass die emotionale Bindung an sie schwächer war als gedacht. Was können die nächsten Schritte sein? Bücher mit Löchern wegwerfen? Leere Schuhkartons? Schon möglich. Eines Tages.
Müll wird immer sortenrein getrennt. Das Geschirr wird gleich nach dem Essen abgewaschen. Nach dem Zähneputzen wird nichts mehr gegessen – die Liste der Dinge, die man im Alltag laufend erledigen und beachten muss, ist lang. Halb soziale Konvention, halb Notwendigkeit für das gelingende Zusammenleben, sind viele dieser Regeln ja gar nicht zu verdammen. Aber Aufgaben nach vorherbestimmten Regeln abzuarbeiten ist etwas für Computer, nicht für Menschen. Das Leben ist kein Algorithmus. Und der Mensch braucht ab und zu das Abweichen von der Regel, sonst geht ihm bald der Saft aus.
Socken mit Löchern sind kein modisches oder politisches Statement. Sie sind manchmal peinlich, manchmal lustig – je nach Perspektive. Paul Wolfowitz zum Beispiel hat als Präsident der Weltbank einmal die sehr berühmte türkische Selimiye-Mosche in Edirne besucht. Nach dem obligaten Schuheausziehen waren in beiden seiner grauen Wollsocken daumennagelgroße Löcher zu sehen. Die Häme, die weltweit über den armen Mann ausgegossen wurde, hatte natürlich sehr viel mit seiner hervorgehobenen Stellung zu tun. Trotzdem war sie ungerecht – und sagte viel mehr über ihre Urheber aus. Viel eher müsste es heißen: „Der Weltbank-Präsident – einfach auch nur ein Mensch.“
Socken sind Verbrauchsware, sind sie defekt, landen sie natürlich früher oder später in der Tonne. Aber im Getriebe des Alltags wandern sie halt immer wieder mal zurück auf den Wäschestapel, in die Waschmaschine und den Schrank. Und beim nächsten Mal anziehen ist man zu faul, ein neues Paar zu holen, ist ja schließlich nur ein kleines Loch, dessen Anblick im Schuh niemand belästigt …
Alle Sockenbügler, die das nicht aushalten, dürfen es natürlich anders halten.