Die neuen Landärzte
Jede Woche schließt in Bayern eine Hausarztpraxis. Gerade abseits der Städte wird die Situation langsam bedrohlich. Wie könnte das Rezept aussehen, mehr Mediziner fürs Land zu begeistern? In Dillingen scheint man eine Antwort gefunden zu haben
Dillingen/Buttenwiesen Philipp Kahr hat gerade die schwierige DarmOperation hinter sich. Und wenn er möchte, kann er nachher bei einer Gallenblasen-Entfernung assistieren. Es ist einer der Momente, die sich der Medizinstudent nur ungern entgehen lässt. Dabei konnte sich der 30-Jährige das vor Jahren noch gar nicht vorstellen. Als Mediziner zu arbeiten. Geschweige denn als Hausarzt. „Das war mir immer eine Nummer zu groß“, sagt er. Jetzt ist er doch hier an der Dillinger Kreisklinik, in seinem praktischen Jahr. Und erzählt die Geschichte, wie es dazu gekommen ist.
Kahr hatte sich in den Kopf gesetzt, Seelsorger zu werden. Bis er für das Hilfswerk der Jesuiten nach Rumänien reiste und in einem Hospiz arbeitete. Damals, sagt er, ist der Wunsch entstanden, dass er Menschen auch medizinisch helfen will. Mit 25 Jahren vollzog der Österreicher das, was er „den großen Wechsel“nennt. Vom Theologie- und Religionspädagogik-Studium zur Medizin, von Graz nach Würzburg. Und jetzt also Dillingen.
Auch das ist eine Geschichte für sich. Eine, die vor allem mit dem Ärztemangel zu tun hat. Und damit, dass Studenten wie Philipp Kahr mittlerweile begehrt sind. Weil sich immer weniger Nachwuchsmediziner vorstellen können, später als Hausarzt zu arbeiten – noch dazu auf dem Land.
Welche Folgen das hat, zeigt ein Blick in die Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. 36 Prozent
Die Chefärztin sagt: Das ist nur die Spitze des Eisbergs
der Hausärzte im Freistaat sind über 60 Jahre alt. Wer einen Nachfolger sucht, tut sich schwer. Im Schnitt schließt jede Woche in Bayern eine allgemeinmedizinische Praxis. Schon jetzt fehlen mehr als 200 Hausärzte.
Im zweiten Stock der Dillinger Kreisklinik faltet Chefärztin Dr. Ulrike Bechtel, 55, die Hände, beugt sich nach vorne und sagt: „Das ist doch nur die Spitze des Eisbergs.“Es ist ja nicht nur so, dass es zu wenig Hausärzte gibt. Insgesamt fehlen nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in deutschen Praxen und Krankenhäusern 10 000 Ärzte. „Die jungen Leute können sich heute aussuchen, wo sie arbeiten wollen“, sagt Bechtel. Viele bleiben nach dem Studium in den Ballungszentren, immer weniger zieht es aufs Land. Will man das ändern, sagt die Chefärztin, müsse man schon etwas Besonderes bieten. Und an den Universitäten anfangen.
Manche ihrer Kollegen sagen, Bechtel habe die Zeichen der Zeit erkannt. Das Konzept, das sie in Dillingen entwickelt hat, wird als „Leuchtturm“gelobt. Die Idee hinter dem Modellprojekt, das 2013 als „Ausbildungskonzept Allgemeinmedizin Dillingen“entstand, ist die: Das Kreiskrankenhaus St. Elisabeth übernimmt zusammen mit den Hausärzten in der Region die praktische Ausbildung von Medizinstudenten der Technischen Universität München. Diese können in Dillingen ein Praktikum absolvieren, ihr praktisches Jahr machen, werden von Mentoren gezielt gefördert und so besonders gut auf den Beruf des Hausarztes vorbereitet. So wurde das Dillinger Krankenhaus zum bundesweit ersten Lehrkrankenhaus für Allgemeinmedizin und zehn Arztpraxen im Landkreis zu Lehrpraxen der TU München.
Auch in Würzburg, wo Philipp Kahr studiert, hat Bechtel für ihr Konzept geworben. Den 30-Jährigen hat sie überzeugt. Er hat seine Famulatur, wie das Praktikum im Medizinstudium heißt, in Dillingen gemacht und ist nun für sein praktisches Jahr zurückgekommen – mit einem Stipendium.
600 Euro bekommt Kahr im Monat, außerdem kostenlose Unter- kunft und Verpflegung. Und, nicht zu vergessen, die intensive Betreuung. „Das hier ist ein Rundum-Programm“, sagt er.
Auch im bayerischen Gesundheitsministerium hat man verstanden, dass es Rezepte gegen den Hausärztemangel braucht. Mehr als 200 Stipendien wurden an Medizinstudenten vergeben, die sich verpflichten, nach ihrem Abschluss mehrere Jahre auf dem Land zu arbeiten.
Auch am Dillinger Konzept hat man Gefallen gefunden. So sehr, dass es auf andere Städte ausgeweitet wurde – Eichstätt etwa, Mühldorf am Inn oder Weißenburg in Mittelfranken. Insgesamt 5,8 Millionen Euro gibt das Ministerium in den nächsten Jahren für das Projekt aus, das nun „Beste Landpartie Allgemeinmedizin“heißt.
Ohne das Dillinger Modell, sagt Dr. Kurt Michl, sähe auch seine Gemeinschaftspraxis anders aus. Michl steht im Zentrum von Buttenwiesen, etwa 6000 Einwohner, eine halbe Stunde von Dillingen entfernt, und versucht zu erklären, wie das hier funktioniert. Dass er und Regina Brandmaier Gesellschafter sind, dass zwei angestellte Allgemeinärzte hier arbeiten und darüber hinaus vier Assistenzärzte – zwei davon junge Mütter in Teilzeit. „Das hier“, sagt er und macht eine ausladende Geste, „ist die Praxisform der Zukunft. Ein oder zwei Ärzte schaffen es nicht mehr.“
Vielleicht muss man ein paar Jahre zurückgehen, um zu verstehen, was Michl meint. Und dem 71-Jährigen zuhören, wenn er sagt: „Ich bin ein Dinosaurier.“Weil der Typ Hausarzt, wie er ihn über Jahre gelebt hat, immer seltener wird. Einer, der als Einzelkämpfer tagsüber 14 Stunden in der Praxis arbeitete und nachts regelmäßig aufstand, wenn ein Notfall es nötig machte – es gab ja damals keine geregelten Notdienste. Einer, der im Ort wohnt und bei dem die Leute auch sonntags klingeln, wenn das Kind krank ist oder eine Platzwunde genäht werden muss. Viele junge Kollegen, erzählt er, wollen so nicht arbeiten. Sie wollen mehr Zeit für die Familie und Hobbys. Sie wollen feste Arbeitszeiten. Und selbst bestimmen, wo sie wohnen.
Heute kann ein Hausarzt in Augsburg leben und in Buttenwiesen praktizieren. Einige seiner Mitarbeiter machen das so, sagt Michl. Und das ist nicht das Einzige, was sich geändert hat.
Die Ärzte, die in seiner Praxis angestellt sind, sollen einfach nur Arzt sein. Keine Abrechnungen, kein Schriftverkehr, kein Papierkram. Das übernehmen die Verwaltungsmitarbeiter im ersten Stock. Im Erdgeschoss sind die acht Sprechzimmer. Jeden Tag arbeiten zwei bis drei Ärzte in der offenen Sprechstunde. Die anderen machen Hausbesuche oder kümmern sich um die Patienten, die einen Termin haben. „Das klappt nur mit so vielen Ärzten“, glaubt Michl. „Eigentlich sind wir längst ein mittelständisches Unternehmen.“
Hausarzt, sagt Michl, ist trotz allem einer der schönsten Berufe. Weil man Menschen von Jung bis Alt behandelt. Diese Begeisterung will er auch den Studenten weitergeben, die in seiner Praxis mitarbeiten. Während andere Hausärzte im
Simone Janz hat schon ihre Entscheidung getroffen
Landkreis händeringend Nachfolger suchen, hat Michl diese Probleme nicht. Ulrike Bechtel, die Chefärztin in Dillingen, winkt ab: „Der Hausarzt, der passiv auf Bewerber für seine Praxis wartet, ist ohnehin auf dem falschen Dampfer.“Wer einen Nachfolger haben will, sagt sie, muss ausbilden.
Seit 2013 haben 126 Medizinstudenten am Dillinger Ausbildungskonzept teilgenommen – aus allen Teilen Deutschlands. 25 approbierte Ärzte sind in der Region geblieben, rechnet die Chefärztin vor. „Jeder einzelne gewonnene Mediziner ist wie ein Goldnugget“, sagt Bechtel.
Wenn man so will, ist Simone Janz auf dem besten Weg dahin. Aber erst einmal will die 28-Jährige aus der Nähe von Frankfurt von ihrer ersten Begegnung mit Dillingen erzählen. Damals, als sie noch Medizin an der TU München studierte und nach einer Stelle für das praktische Jahr suchte, wurde ihr die Große Kreisstadt mit den 19000 Einwohnern empfohlen. Nur, wo genau diese liegt, darüber hat sie sich keine Gedanken gemacht.
Erst, als sie im Internet nach einem Rock-’n’-Roll-Kurs in der Gegend suchte, kam sie beim Blick auf die Postleitzahl ins Grübeln: Sie war in Dillingen an der Saar gelandet. Simone Janz lacht, rückt die grüne Brille zurecht und sagt: „Dabei hat Dillingen schon einen Namen bei Medizinstudenten. Diese Betreuung, die man hier kriegt, hat man in München nicht.“
Nach dem Studium ist die junge Frau zurückgekehrt – so, wie es eben im besten Fall läuft. Jetzt macht sie ihre Facharzt-Weiterbildung in Dillingen. Zuerst im Krankenhaus. Und ab Frühjahr wird sie wieder in der Lauinger Hausarztpraxis mitarbeiten, in der sie schon im praktischen Jahr war.
Sie wird Bluthochdruck behandeln, Rückenschmerzen oder Erkältungen. Diese Mischung, die Herausforderung, sich in vielen Bereichen auskennen zu müssen, das reizt Simone Janz. Genauso wie die Tatsache, dass man Familien über Generationen hinweg begleitet. „Deswegen will ich unbedingt Allgemeinärztin werden.“
Janz kann sich gut vorstellen, das in Dillingen zu tun. Natürlich bleiben viele ihrer Kommilitonen in der Großstadt, räumt sie ein. „Aber ich mag das Leben hier in Dillingen.“Außerdem, sagt sie, ist die Anbindung gut. Eine Dreiviertelstunde nach Augsburg oder Ulm, anderthalb Stunden nach München. Sie hat hier ein Netzwerk an Kollegen, sie hat Freunde gefunden und die große Liebe noch dazu.
So sicher ist Philipp Kahr noch nicht. Er muss sich erst einmal entscheiden, in welcher Hausarztpraxis er ab Juli mitarbeiten will. Er hat sich verpflichtet, anschließend ein Jahr in Dillingen zu bleiben – eine Bedingung des Landarzt-Stipendiums. Und danach?
Kahr stockt einen Moment. „Es ist zu früh, diese Frage zu beantworten.“Hausarzt könnte er sich vorstellen, klar. Schon weil man seine Patienten intensiv begleitet. Weil es auch Vorteile hat, selbstständig zu sein. „Es könnte in Dillingen sein“, sagt er. „Aber ich bin auch der Steiermark sehr verbunden.“Auch dort sind Hausärzte dringend gesucht. Dort, hat er zuletzt gelesen, bekommen diejenigen, die auf dem Land bleiben, sogar ein Auto gestellt.