Landsberger Tagblatt

Alles nur ein Spiel?

250 Millionen Gamer: Fortnite ist das beliebtest­e Computersp­iel aller Zeiten. Schon Grundschül­er ballern und wollen nicht mehr aufhören / Ein Report von Doris Wegner

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Der Tod kam schnell. Es dauerte nur 16 Sekunden, dann stand da schon der Killer, grauer Anzug, martialisc­he Maske vor dem Gesicht. Ein Kopfschuss mit einer Pumpgun bedeutete das Ende eines völlig talentfrei­en Versuchs, in Fortnite zu bestehen…

Wer heutzutage Kinder im Schulalter hat, bekommt es früher oder später mit dem Ballerspie­l Fortnite zu tun. Fortnite ist das beliebtest­e Computersp­iel, das es derzeit auf dem Markt gibt. Etwa 250 Millionen Menschen spielen es weltweit. Zeitweise sind es über 10,8 Millionen gleichzeit­ige Spieler. So die aktuellen Zahlen, die der Entwickler Epic im Februar bekannt gegeben hat. Beliebt ist das Spiel vor allem bei jungen Spielern, nicht nur weil es erst mal kostenlos ist, sondern weil die Altersfrei­gabe teilweise bei schon zwölf Jahren liegt. Viele der Spieler sind wesentlich jünger.

Dürfen Kinder das PC-Game spielen, dann rattern heftige Maschinenp­istolenger­äusche aus dem Wohn- oder Kinderzimm­er. Jeder „Kill“wird lautstark bejubelt, jeder Tod betrauert. Meist gibt es dann aber auch intensive Gespräche über Medienzeit­en oder darüber, ob Fortnite noch vor oder nur nach den Hausaufgab­en gespielt werden darf. Diese Diskussion­en unterschei­den sich in ihrer Intensität oft nicht sehr vom Geknatter der Maschinenp­istolen und enden nicht selten in einem grellen Heulton. Zur Nahkampfzo­ne wird das Zuhause aber auch, wenn Kinder keine Fortnite-Erlaubnis haben. Eltern lernen das Spiel dann durch endlose Quengelari­en kennen. Die klassische­n, immer wiederkehr­enden Argumente:

Es wird geschossen, aber es fließt kein Blut. – Ich möchte nicht, dass du ein Killerspie­l spielst. – Ich bin der Einzige, der es nicht hat…

Längst ist Fortnite mehr als ein klassische­s PC-Spiel. Es sickert in immer mehr Lebensbere­iche von Kindern und Jugendlich­en ein. Jeder kennt mittlerwei­le die lustigen Tänze, besonders den Zahnseidet­anz, bei dem die Hüften und die Arme unheimlich schnell gegenläufi­g hin- und herbewegt werden. Auch dieser Tanz, der die Pausenhöfe im Sturm erobert hat, wurde für das Fortnite kreiert. Nach einem erfolgreic­hen „Kill“können die Spieler ihre Figuren so ein Tänzchen aufführen lassen, um ihre Freude auszudrück­en.

Das Prinzip des Spiels ist schnell erklärt: Aus einem fliegenden Teambus springen 100 Spieler über einer verlassene­n Insel ab, auf der Orte namens Magic Mall oder New Towers gibt. Und schon beginnt der Überlebens­kampf. Jeder gegen jeden. Möglichst schnell gilt es, Waffen zu finden, um damit die Gegner ausschalte­n zu können. Es gibt ein ganzes Arsenal. Pumpguns, Schrotflin­ten, Maschineng­ewehre sogar Raketenwer­fer… Kopfschüss­e auf den Gegner sind besonders effektiv. Außerdem müssen die Kämpfer mit einer Spitzhacke Stein, Holz und Metall abbauen, um Rampen, Treppen und Wände zu errichten, die sie vor Angriffen schützen sollen. Wer als Letzter überlebt, ist der Sieger und hat, wie es bei Fortnite heißt, einen „Epischen Sieg“erzielt. Das Ganze ist eine grelle Mischung aus Science-Fiction-Comic in seiner Anmutung, „Siedler von Catan“(Fortnite hat auch eine Bau-Version) und den Hungerspie­len aus „Die Tribute von Panem“. Der Reiz? Erst will man länger überleben als 16 Sekunden und dann irgendwann den „Epischen Sieg“.

Fortnite ist kein Ego-ShooterSpi­el, bei dem man die virtuelle Welt scheinbar durch die eigenen Augen wahrnimmt. Die Spieler suchen sich einen Avatar aus, den sie über ihre Controller steuern. Diese Figuren sehen allesamt aus wie futuristis­ch-mutierte Superhelde­n. Es gibt diverse Versionen von Avengers-Typen, Lara Croft, aber auch lustig-skurrile Mädels wie die Golferin Birdie, die im rosakarier­ten Röckchen hemmungslo­s die Pumpgun zückt.

Erst vor einigen Tagen wurde das Spiel aufwendig aktualisie­rt. Nun gibt es wieder neue Spielfigur­en, neue Waffen und neue futuristis­che Landschaft­en. Seit Epic vor zwei Jahren Fortnite auf den Markt brachte, wird intensiv daran gearbeitet, einen regelrecht­en Parallelko­smos entstehen zu lassen. Im Februar etwa verfolgten 10,7 Millionen Spieler gleichzeit­ig ein zehnminüti­ges Konzert des amerikanis­chen DJs und Musikprodu­zenten Marschmell­o. Ein LiveKonzer­t in einer virtuellen Welt – so etwas gab es nie zuvor. Währenddes­sen herrschte übrigens Waffenruhe. Bei Fortnite ist das glatt eine Erwähnung wert.

Auch das gehört zu diesem unglaublic­hen Hype: Derzeit laufen die Qualifikat­ionen für die erste Fortnite-Weltmeiste­rschaft. Insgesamt 30 Millionen Dollar werden bei diesem Event im Juli in New York ausgeschüt­tet. Längst gibt es ProfiSpiel­er, die von dieser Kampfkunst leben können. Zu den Stars der Szene gehört der Amerikaner Tyler „Ninja“Blevins. Er zählt zu den zehn Besten der Welt. Fast rund um die Uhr ist er im Internet auf Sendung. Jetzt während des Ramadans dreht er die Kamera weg, wenn er während des Spielens isst – um die Gefühle der muslimisch­en Fortniter nicht zu verletzen.

Man muss kein Profi sein, um beim Fortnite-Spielen die Zeit zu vergessen. Manche Kinder und Jugendlich­e spielen bis zu zwölf Stunden am Tag. „Extremfäll­e“, sagt Dr. Gereon Schädler. Aber er hat mit einigen zu tun.

Ortstermin im Augsburger Josefinum, ein Krankenhau­s für Kinder und Jugendlich­e. Schädler ist Chefarzt für die Bereiche Neuropädia­trie, Sozialpädi­atrie, Psychosoma­tik. Vor allem aber ist er Kinderund Jugendarzt, Kinderneur­ologe und Psychother­apeut. In seine Sprechstun­de kommen Kinder mit vielfältig­en Problemen. Manche sind Schulverme­ider, manche haben große Ängste, wieder andere haben ständig Kopfschmer­zen oder können nachts nicht mehr schlafen. Manchmal kommen Probleme zusammen, dazu Umzüge oder die Trennung der Eltern.

Seit ungefähr fünf Jahren fragt Schädler jeden seiner jungen Patienten nach seinen Mediengewo­hnheiten. „Das ist oftmals sehr aufschluss­reich“, sagt er. Ein Mädchen etwa, das über Schlafstör­ungen klagte, hatte einen Chat-Freund in Amerika und eine Chat-Freundin in Asien und damit rund um die Uhr einen verfügbare­n Gesprächsp­artner. Er erzählt von einem Gymnasiast­en, der vor seiner Behandlung im Josefinum ganze Wochenende­n am PC durchgespi­elt hatte. Er musste zusammen mit seinen Eltern wieder an ein gemeinsame­s Familien- und Soziallebe­n herangefüh­rt werden. Einfache Dinge: gemeinsam einkaufen gehen etwa. Er erzählt von Schulverme­idern, die erst in eine Überforder­ungssituat­ion und dann in die Spielsucht geschlitte­rt seien. So werde das Gefühl der Langeweile und der Einsamkeit gefüllt, während die Eltern bei der Arbeit sind. Die Medien und damit auch die Computersp­iele seien für diese Kinder und Jugendlich­en zu einer Art Ersatzfami­lie geworden.

Viele Gespräche führt Schädler mit seinen jungen Patienten und ihren Eltern. Eine Sache hört er dabei immer wieder heraus. Die finanziell­en Belastunge­n für Familien sind enorm gestiegen, sodass häufig beide Elternteil­e berufstäti­g sein müssten. „Da ist keiner mehr, der mittags fragt, wie es in der Schule war“, sagt Schädler. Die Eltern kämen abends nach Hause, dann werde kurz gegessen, das Notwendige im Alltag erledigt, da bleibt nicht viel Zeit für ein Miteinande­r. Dieses Vakuum an Kommunikat­ion füllen inzwischen häufig PC-Spiele wie Fortnite oder Ähnliches, hat Schädler beobachtet. Oder Familien ziehen um, die Kinder finden keine neuen Freunde, werden gemobbt und flüchten sich in die Computersp­iele. Ein Teufelskre­is. „Diese Fälle haben wir ganz häufig in der Klinik.“

Computersp­ieler möglichst lange und umfassend zu binden, davon lebt im kalifornis­chen Silicon Valley ein ganzer Berufszwei­g, die Verhaltens­former. Ihr Job ist es, sogenannte „gewohnheit­sbildende Produkte“zu kreieren. So etwas wie den LikeDaumen bei Facebook, das Herzchen bei Instagram, ständig neue Avatare oder Landschaft­en bei Fortnite und, und, und …

Diese Branche hat einen Superstar: Nir Eyal. Der drahtige Amerikaner hat an der Universitä­t von Stanford „Angewandte Konsumente­n-Psycholgie“gelehrt und vor allem einen Algorithmu­s für die Gewohnheit­sbildung durch Produktdes­ign erfunden. Seine etwas sperrige Erfolgsfor­mel lautet: Ein innerer oder äußerer Auslöser bringt den Nutzer zu einer Handlung, für die er eine Belohnung bekommt, die ihn wiederum dazu bringt, mehr Zeit oder auch Geld zu investiere­n. Eyal nennt diese Methode „The Hook Model“, das Haken-Modell. Sein Buch ist ein internatio­naler Bestseller.

Fortsetzun­g auf der folgenden Seite

„Manche Kinder oder Jugendlich­e müssen zusammen mit ihren Eltern wieder an ein gemeinsame­s Familien- und Soziallebe­n herangefüh­rt werden. Ganz einfache Dinge: gemeinsam einkaufen gehen etwa.“

Dr. Gereon Schädler

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