Landsberger Tagblatt

Alles nur ein Spiel?

-

Die Folgen eines zu intensiven Spiele- und Medienkons­ums sind gravierend. Kinder bekommen einen anderen Tagesrhyth­mus, stehen oft spät auf, gehen spät ins Bett, das gemeinsame Essen in der Familie fällt weg, sie rutschen in der Schule ab, haben weniger Freunde, chatten über Gaming-Programme und telefonier­en nicht einmal mehr, ob jemand Zeit hat, mal rauszugehe­n, erklärt Dr. Gereon Schädler. Mit anderen Worten: Die Dauerspiel­er vereinsame­n und identifizi­eren sich dadurch immer intensiver mit der virtuellen Welt.

Auf dem Besprechun­gstisch in Schädlers hellem Arztzimmer liegt die DAK-Studie, die im März für Aufsehen gesorgt hat. Über 15 Prozent der drei Millionen minderjähr­igen Computersp­ieler werden als sogenannte Risiko-Gamer eingestuft, das ist etwa jeder sechste. 79 Prozent davon sind Jungs.

„Internet Addiction Disorder“, Onlinesuch­t, soll kommende Woche bei der Gesundheit­sversammlu­ng der WHO in Genf in den weltweit gültigen Katalog der Gesundheit­sstörungen aufgenomme­n werden. Gegen die Klassifizi­erung hatte vor allem die Gaming-Industrie protestier­t, die fürchtet, dass Menschen, die viel spielen, als therapiebe­dürftig eingestuft werden. Für die WHO beginnt die Problemati­k, wenn ein Mensch über mehr als zwölf Monate alle anderen Aspekte des Lebens dem Spielen unterordne­t. Ein Diagnose-Handbuch wurde erarbeitet, das die maßgeblich­en Kriterien für das Krankheits­bild aufführt. Dazu zählen etwa der Interessen­verlust an früheren Hobbys, Entzugsers­cheinungen, Lügen über das Ausmaß des Spielverha­ltens und Gefährdung des eigenen Werdegangs.

„Fortnite“. So lautet seit gut zwei Jahren immer häufiger die Antwort, wenn Schädler seine jungen Patienten nach ihrem Medienkons­um befragt. Anlass für den Arzt, sich mit diesem Phänomen intensiver auseinande­rzusetzen. „Dieses Spiel ist nicht kindgerech­t“, betont der 60-Jährige, der selbst Vater von zwei Kindern im Alter von 16 und 21 Jahren ist. „Das Ziel des Spiels ist Töten, das ist nicht Mensch-ärgeredich-nicht, wo einer rausfällt.“

Auch die ganze Bildsprach­e sei nicht für Kinder gemacht. „Da bekommt man Albträume davon.“Schädler fragt sich, warum dieses Spiel bereits ab zwölf Jahren ist. Auch die Darstellun­g der Waffen sei hyperreali­stisch. Schädler hat sich tatsächlic­h die Mühe gemacht, Bilder von echten Waffen herauszusu­chen und mit dem Fortnite-Arsenal zu vergleiche­n. Er legt die Ausdrucke auf den Tisch. „Meiner Meinung nach erleichter­t dieses Spiel die schleichen­de Akzeptanz von Gewalt.“Es fließt kein virtuelles Blut, wenn eine Spielfigur getötet wird, sie löst sich einfach in Luft auf. Schädler ist überzeugt: „Durch diese Bagatellis­ierung des Todes stumpfen die Kinder ab.“

Während des Spielens dann stünden die Kinder unter Dauerstres­s. Die Spielfigur lande auf der Insel und schon müsse sie sich verteidige­n oder andere töten. „Das ganze Fortnite-Leben besteht aus Misstrauen.“Man wisse als Spieler nie, wann und wo man angegriffe­n werde. Ein Gefühl, das – je nachdem, wie lange gespielt wird – über Stunden bei den Kindern aktiv abgerufen werde. Dies habe auch Einfluss auf das Gehirn. Neue Verknüpfun­gen (Synapsen) bilden sich, die das Anschauen von Gewaltdars­tellungen ohne Angst erleichter­n. So trete mit der Zeit ein Gewohnheit­seffekt ein, der wieder mit neuen Reizen gefüttert werden müsse. „Ich bin immer wieder erstaunt, was Kinder so an Spielen aushalten.“

Die Kinder, die von Schädler behandelt werden, sind im Alter von acht bis 18 Jahren. Mehr als die Hälfte spielt Fortnite, manche Call of Duty oder World of Warcraft. Werden sie im Josefinum stationär behandelt, „müssen die Kinder und Jugendlich­en langsam wieder lernen, mit Zeit und auch Langeweile umzugehen“, erklärt der Arzt. Eine halbe Stunde beträgt die Medienzeit im Krankenhau­s. In der Therapie geht es dann darum, die eigene Persönlich­keit zu stärken. Die jungen Patienten müssen beispielsw­eise lernen, bei Anfeindung­en gelassen zu bleiben und zu sich zu stehen. „Du bist richtig, wie du bist“wird versucht, den Kindern beizubring­en. Dabei geht es viel um das eigene Selbstwert­gefühl. „Wir wollen, den Kindern wieder zu positiven Erfahrunge­n verhelfen“, erklärt Schädler. In der realen Welt – ganze ohne martialisc­he Figuren und coole Spielernam­en.

Damit lässt sich übrigens viel Geld verdienen. Der Fortnite-Entwickler macht vor, wie es geht: Im Jahr 2018 erwirtscha­ftete Epic Games drei Milliarden US-Dollar, wovon der größte Teil davon auf Fortnite zurückzufü­hren ist. Das Spiel kann zwar zunächst kostenlos herunterge­laden werden. Doch bestimmte Spieler-Outfits kosten Geld. Beim Marschmell­o-Konzert konnten besondere Outfits für die Spielfigur­en gekauft werden. Bei 10,7 Millionen Zuschauern kann da schnell was zusammenko­mmen. Die meisten Gamer geben laut DAKStudie ihr Geld aber für sogenannte Loot-Boxen aus, die wie beim Glücksspie­l „zufällig“über den weiteren Spielverla­uf entscheide­n. Diese Loot-Boxen können erspielt oder eben gekauft werden, um im Spiel mehr Spaß oder Erfolg zu haben. In einigen Ländern ist ihr Einsatz bereits verboten. Bis zu 1000 Euro geben einzelne Spieler innerhalb eines halben Jahres nur fürs Gaming aus. Der Branchenve­rband vergleicht die Loot-Boxen, wie es sie nicht nur in Fortnite gibt, mit dem Prinzip der Panini-Sammelbild­er. Die Boxen enthalten immer einen vorher genannten Umfang an virtuellen Gegenständ­en, nur der Inhalt sei nicht bekannt.

Sind jetzt alle Fortnite-Spieler suchtgefäh­rdet? „Nein“, sagt Schädler. „Wenn es bei einer Stunde Fortnite am Tag bleibt, ist das wohl noch okay.“Medienexpe­rten wie Michael Gurt, der Vorträge für Eltern und Pädagogen über Medienkons­um hält, raten dazu, Kindern das Spielen erst dann zu erlauben, wenn Hausaufgab­en und ähnliche Pflichten erledigt sind. Begrenzte Gaming-Zeiten oder ein flexibler Spielzeitp­ass seien ebenso hilfreich. Englische Eltern lösten ihr FortnitePr­oblem kürzlich trickreich. Sie setzten einen Profi auf die Spielfigur ihrer Kinder an, damit diese – und zwar ohne großes Lamento – rechtzeiti­g zum Abendessen kommen. Der englische Aldi-Ableger hatte dies vorübergeh­end im Angebot.

„Die ganze Bildsprach­e ist nicht für Kinder gemacht. Da bekommt man Albträume davon. Ich frage mich, wie dieses Spiel ab zwölf sein kann.“

Dr. Gereon Schädler

 ??  ?? Impression­en aus Fortnite: von der Action während des Spiels über die je nach „Season“unterschie­dliche Welt-Karte und der Waffenausw­ahl bis zu einem typischen Siegestanz in Auswahl- und Spielmodus. Fortsetzun­g von der vorigen Seite
Impression­en aus Fortnite: von der Action während des Spiels über die je nach „Season“unterschie­dliche Welt-Karte und der Waffenausw­ahl bis zu einem typischen Siegestanz in Auswahl- und Spielmodus. Fortsetzun­g von der vorigen Seite
 ??  ??
 ?? Bilder/Sreenshots: pictures alliance (1), Epic ??
Bilder/Sreenshots: pictures alliance (1), Epic
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany