Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (127)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Selbst wenn es ihretwegen geschehen wäre (es ließ sich ja denken, daß ihm das an der Mutter verübte Verbrechen nicht verborgen geblieben war und er deshalb den Vater verlassen hatte, mit der geheimen Hoffnung vielleicht, zu ihr zu flüchten), auch dann hätte sie die Befriedigung nicht verspürt, die sie jetzt empfand. Dieses „Sinnvolle“war von höherer Art, die Vergeltung schlagender. Wer hätte sich getrauen dürfen, das, gerade das zu hoffen und zu prophezeien? Sie lächelte, nicht triumphierend, eher überrascht, als könne sie an etwas Wunderbares noch nicht ganz glauben. Furchtlos sagte sie: „Die Ansprüche, die ich stellen könnte, haben keinen Inhalt mehr, nur weißt du es nicht.“„Wie das?“fragte Herr von Andergast mit schwachem Versuch, Interesse zu zeigen, und stellte das Petschaft wieder auf seinen Platz. „Das heißt, du weißt es wohl, du bewirkst nur das Nichtwissen künstlich“, fuhr Sophia fort, „wie sollte jemand wie du nicht wissen,
wenn er in seinem Mark getroffen und in seinem Lebensgesetz aufgehoben ist.“„Darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß diese Ausführungen jeder Verständlichkeit entbehren?“„Bitte. Meine Ambition in der Beziehung ist gering. Die Sache ist aber nicht besonders dunkel.“„Ich bin ganz Ohr.“„Du bildest dir doch nicht ein, daß es sich bloß um eine vorübergehende Störung des Verhältnisses zu deinem Sohn handelt? Der Bub wird zurückkommen, wenn er seinen Zweck erreicht hat oder wenn er sich überzeugt hat, daß er unerreichbar ist. Er wird zurückkommen, ohne Frage, aber nicht zu dir. Niemals mehr zu dir.“
Herr von Andergast lachte trocken und etwas mühselig auf. „Ich sollte meinen, dagegen gibt es Anstalten und Vorkehrungen“, versetzte er. „Zwangsanstalten und Zwangsvorkehrungen. Ja. Damit gewinnt man nicht eine Seele zurück.“„Ich lege keinen Wert auf die Seele.“„Das weiß ich. Also wirst du versuchen, die Seele zu exorzisieren. Du hast ja so herrliche Resultate damit erzielt.“„Ich werde tun, was mir die Pflicht gebietet.“„Selbstverständlich. Die Pflicht ist ein großer Herr. Und was gebietet sie dir? Den Kerker.“
„Ich lehne die Debatte in diesen Formen ab.“„Die Form, mein Gott“, sagte Sophia mitleidig, „ich kann nicht wie deine Kanzleiautomaten mit dir reden, wenn es um das geht, worum es eben geht.“„Nämlich?“„Ich bin nicht gekommen, um etwas zu fordern, sondern um etwas zu verhindern.“„Und das wäre?“„Verstündest du nicht so gut, du fragtest nicht so schlecht.“„Du scheinst also doch zu befürchten, daß ich der Entwicklung der Dinge nicht so ohnmächtig gegenüberstehe, wie du anfangs für gut fandest, mich glauben zu machen.“„Wer sollte an deinem Scharfblick zweifeln? Scharfblick ist das Beste, was du hast. Ohnmächtig; Nein. Für ohnmächtig halt ich dich nicht. Nie wirst du es sein. Leider, du bist zu beklagen darum. In der Ohnmacht entdeckt man oft seine wahre Kraft. Deine hast du am toten Werk verbraucht. Treib’s nicht in den Widersinn. Der Bub ist dir nun einmal verloren.“
Einen Augenblick lang war es, als wolle Herr von Andergast den Panzer abwerfen, der ihn unangreifbar machte, die veilchenblauen Augen glühten unheilvoll auf, die schwimmende Blässe um die Nase verbreitete sich über die Wangen. Aber er schwieg. Die Frau vergißt sich, die Frau tritt mir entschieden zu nah, schoß es ihm zornig durch den Kopf. Allein er schwieg. Er schritt zu dem braunen Kachelofen und lehnte sich an ihn an, in der Haltung eines Mannes, der es in stummer Geringschätzung von sich weist, daß man seine Person zum Gegenstand psychologischer Tüfteleien macht. Sophias Stimme erhob sich nicht über den bisherigen Konversationston, als sie fortfuhr: „Eines Tages mußten ihm die Augen aufgehn. Es mußte ihm klarwerden, wer sein Vater ist. Er ist ja mein Sohn. Daß er mein Sohn ist, wird ja nicht geleugnet. Oder? Ich hatte freilich nicht die rechte Vorstellung von ihm. Eigentümliches Geständnis einer Mutter, nicht wahr? Aber ich habe wenigstens nicht umsonst die ganzen Jahre her gewartet, nichts als gewartet.
Deine Rechnung war falsch. Wenn dir auch die Seele nichts gilt, wie du sagst, sie hat dir doch bewiesen, daß man sie nicht vergewaltigen kann. Der Widersacher im Geiste. Bewundernswert, wie zielbewußt du ihn dazu erzogen hast. Deine Mutter hat mir erzählt… Hält man alles zusammen, so entsteht ein klares Bild. Du erinnerst dich wohl kaum, daß ich an die Schuld des Maurizius nie glauben konnte. Du hast dich freilich nicht dazu herbeigelassen, Notiz davon zu nehmen, was ein achtzehnjähriges Geschöpf fühlt und denkt… Mon Dieu, cela ne tire pas à conséquence. Wir lernten uns genau an dem Tag kennen, an dem das Urteil rechtskräftig wurde und du es mir strahlend mitteiltest. Ein Schauder ging mir durch und durch. Ich höre noch, mit welcher Betonung du das Wort aussprachst, rechtskräftig, als wär’s eine Botschaft vom Himmel. Als ich meinem Vater unsre Verlobung anzeigte, er war zur Kur in Nauheim, drei Wochen vor seinem Tod, schrieb er mir einen Brief, der nur von der Unschuld des Maurizius und von dir handelte, der die Anklage vertreten hatte. Ihm, dem Rechtsgelehrten, ging die Sache nah, er war aus einer andern Zeit, ihm war das Recht keine eherne Mosestafel, unsere Verlobung bereitete ihm große Sorge. Sonderbar. Es kommt nichts abhanden in der Welt, das verwehte Samenkorn ist in das Herz meines Kindes gefallen und zum Baum geworden, von dem er die Frucht der Erkenntnis gepflückt hat. In deinen Augen sind Recht und Gesetz Institutionen, die gegen die menschliche Kritik gefeit sind. Mir träumte einmal, daß eine unabsehbare Volksmenge vor dir auf den Knien rutschte, um dich anzuflehen, du solltest einen Spruch zurücknehmen, du bist dagestanden wie eine steinerne Säule. Schrecklicher Wahn, sich einzubilden, man könne unfehlbar sein, unfehlbarer Richter. Nicht geirrt haben dürfen, was für ein Fluch! Du hast mir mein Kind genommen, ja, mein Kind, die Mutter besitzt, von allen Menschen auf der Welt besitzt vielleicht nur sie, aber ich klage nicht und klage nicht an, ich… wie heißt es in eurer Amtssprache, ich resümiere, du hast es in einem Alter geraubt, laß mich zu Ende reden, das Wort entspricht genau der Tatsache, in einem Alter geraubt, wo du hoffen konntest, ihn ganz nach deiner Idee zu modeln, zu deinem Ebenbild, er war Lehm in deiner starken Faust, du hast dich dabei auf Recht und Gesetz gestützt wie auf verläßliche Trabanten, und wahrhaftig, sie haben dich ausgezeichnet bedient, dann wächst er dir auf, der gesetzlich beschlagnahmte Mensch, und was ereignet sich? Er zerstört dein Fundament und zerreißt dir deinen Wahn, Recht und Gesetz lassen dich im Stich. Keine Dialektik kann das in Abrede stellen, ich brauch dich ja bloß anzuschauen, um zu wissen, daß es so ist. Noch vor einer Stunde hatte ich keine Ahnung davon, keine Ahnung, daß…“»