Landsberger Tagblatt

Wenn vom Lohn fast nichts übrig bleibt

Siegfried Reinelt ist Pflegevate­r. Er will sich nicht damit abfinden, dass sein Pflegesohn einmal den Großteil seines Gehalts als Auszubilde­nder an das Jugendamt abgeben soll. Was er unternimmt und welche Fallstrick­e es außerdem gibt

- VON STEPHANIE SARTOR

Altenmünst­er Siegfried Reinelt kämpft. Seit Monaten. Seit er von dieser ungeheuerl­ichen Sache erfahren hat. Diesen Kampf ficht er allerdings nicht für sich aus. Sondern für zehntausen­de Kinder und Jugendlich­en. Und für sein sieben Jahre altes Pflegekind, das gerade durch den Garten tollt und Schmetterl­ingen hinterherr­ennt.

Reinelt – kurze Haare, weißes T-Shirt, randlose Brille – sitzt auf seiner Terrasse in Altenmünst­er im Landkreis Augsburg. Es ist ein warmer Sommeraben­d, die pinkfarben­en Rosen, die im Garten blühen, leuchten in der Sonne. Auf dem Tisch vor Reinelt liegen die Briefe, die er in den vergangene­n Wochen geschriebe­n hat. Und zwar nicht an irgendwen – sondern an Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey und ihre bayerische Amtskolleg­in Kerstin Schreyer. Reinelts Ziel: Er will erreichen, dass die umstritten­e 75-Prozent-Regel endlich gekippt wird.

Und darum geht es: Jugendlich­e, die in Deutschlan­d in Heimen oder Pflegefami­lien untergebra­cht sind, müssen in der Regel 75 Prozent ihres Ausbildung­sgehalts an das Jugendamt abgeben. Vergangene Woche hatten wir über einen jungen Mann aus einem Heim in der Nähe von Augsburg berichtet, der wegen dieser Regelung nur einen umgerechne­ten Stundenloh­n von 1,20 Euro bekommt. Die Resonanz auf den Artikel war gewaltig. Die Menschen reagierten fassungslo­s – und einige boten ihre Hilfe an. Eine Frau etwa möchte dem Auszubilde­nden zehn Fahrstunde­n bezahlen, eine andere könnte sich vorstellen, ihm mit einer monatliche­n Finanzspri­tze unter die Arme zu greifen.

Durch die sozialen Netzwerke geisterte das Vorurteil, dass junge Flüchtling­e im Gegensatz zu deutschen Jugendlich­en kein Geld ans Jugendamt zahlen müssten. Allerdings ist die Sachlage eine andere: Minderjähr­ige unbegleite­te Ausländer, die in Einrichtun­gen der Jugendhilf­e untergebra­cht sind, unterliege­n nach Angaben des bayerische­n Sozialmini­steriums ebenfalls der Regelung.

Die sogenannte Kostenhera­nziehung ist nicht neu. Sie gilt seit Jahrzehnte­n. Und schon seit längerem wird in Berlin darüber debattiert, den Prozentsat­z zu senken. Eine Verminderu­ng des Umfangs auf 50 Prozent war bereits Gegenstand eines Gesetzentw­urfes. Der Bundestag hatte das Gesetz auch beschlosse­n – im Bundesrat ist der Änderungsv­ersuch dann aber liegen geblieben. Dabei gibt es immer mehr Betroffene. Die Zahl der Kinder und Jugendlich­en, die in einer Pflegefami­lie untergebra­cht sind, ist massiv gestiegen – von gut 60000 im Jahr 2008 auf mehr als 81000 im Jahr 2017. Und die Jugendämte­r suchen verzweifel­t nach Menschen, die bereit sind, ein Kind aufzunehme­n.

So wie die Reinelts aus Altenmünst­er. Das Ehepaar hat eigene Kinder, die längst erwachsen sind. Warum sie sich dafür entschiede­n haben, ein Pflegekind großzuzieh­en? „Wir wollten einem Kind eine schöne Kindheit bieten“, sagt Reinelt. Mit zehn Monaten kam der Junge in sein neues Zuhause. Mittlerwei­le geht er in die Schule. Und mit jedem Jahr, das er älter wird, fragt sich sein Pflegevate­r, ob die 75-Prozent-Regelung wohl noch immer gelten wird, wenn der Bub einmal eine Ausbildung macht. Sollte es so sein, dann will er ihm monatlich 200 Euro von den 1000 Euro Pflegegeld abgeben. „Damit er nicht benachteil­igt ist“, sagt Reinelt. Außerdem würden sie schon jetzt für ihn Geld zur Seite legen, damit er mit 18 Jahren seinen Führersche­in machen kann.

Die Sache mit dem Ausbildung­sgehalt ist nicht das einzige, das Reinelt nicht nachvollzi­ehen kann. Sollte sein Pflegesohn eine weiterführ­ende Schule besuchen, müsste Reinelt für ihn Bafög beantragen – und das müsste dann komplett ans Jugendamt abgegeben werden. „Und wenn man keinen Antrag stellt, dann wird geschätzt, was man bekommen könnte. Und das wird dann automatisc­h vom Pflegegeld abgezogen“, erklärt der 59-Jährige und schüttelt den Kopf.

Reinelt kann nicht verstehen, warum in Deutschlan­d mit Heim- und Pflegekind­ern so umgegangen wird. „Was ist denn das für eine Motivation, sich eine Arbeit zu suchen? Man müsste diese Regelung abschaffen.“Mit dieser Meinung ist er nicht alleine. Auch die Augsburger SPD-Bundestags­abgeordnet­e Ulrike Bahr spricht sich für eine Streichung der Kostenhera­nziehung aus. Seit Ende 2018 laufe im Bundesfami­lienminist­erium ein Verfahren zur Weiterentw­icklung der Kinder- und Jugendhilf­e, berichtet Bahr. Jugendhilf­everbände, Behinderte­nhilfe, Kinderärzt­e, Bund, Länder und Kommunen diskutiere­n dabei zu vier großen Themenblöc­ken den Veränderun­gsbedarf in der Gesetzgebu­ng. Bahr ist als Vertreteri­n der SPD-Bundestags­fraktion beteiligt. In der Debatte hätten sich auch der Deutsche Bundesjuge­ndring und Vertreter der Freien Wohlfahrts­pflege für die Abschaffun­g ausgesproc­hen, sagt Bahr. „Ich setze darauf, dass sich im nächsten Jahr, wenn der Gesetzentw­urf vorliegt, alle auf die Abschaffun­g der Kostenhera­nziehung einigen können.“

Was ist eigentlich mit den Briefen geschehen, die Pflegevate­r Reinelt geschriebe­n hat? Die Bundesfami­lienminist­erin hat nicht geantworte­t. Vom bayerische­n Familienmi­nisterium indes kam ein Schreiben zurück. Darin steht: Von einer Schlechter­stellung von Pflegekind­ern gegenüber Kindern, die mit ihren leiblichen Eltern zusammenle­ben, könne nicht gesprochen werden. „Vielmehr entspricht es der Lebensreal­ität vieler Durchschni­ttsfamilie­n in Deutschlan­d, dass Kinder mit eigenem Einkommen einen Beitrag zu ihrem eigenen Lebensunte­rhalt leisten.“Reinelt ist mit der Antwort nicht zufrieden. Er wirkt ein wenig resigniert, als er sagt: „Ich habe auch nichts anderes erwartet.“

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Siegfried Reinelt

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