Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (47)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Ja, Pathin,“antwortete die kleine Berangère, und es war auch keinem Zweifel unterworfen, denn das Kind konnte nicht schreiben.
Das ist also das Geheimnis, seufzte Fleur-de-Lys.
Auf den Ruf des Kindes waren Alle herbeigekommen. Die Zigeunerin sah, welche Dummheit ihre Ziege gemacht hatte. Sie wurde bald roth, bald blaß, und zitterte wie eine Schuldige vor dem Kapitän, der sie mit Verwunderung und einem Lächeln befriedigter Eigenliebe betrachtete.
„Phöbus!“kicherten die jungen Mädchen, „das ist der Name des Hauptmanns!“
„Du hast ein wunderbares Gedächtnis!“sagte Fleur-de-Lys zu der Zigeunerin. „Oh!“fügte sie hinzu, indem sie in Thränen ausbrach und ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte, „es ist eine Zauberin!“
Ein bitteres Gefühl in ihrem Innern, das sie nicht laut werden lassen wollte, sagte ihr, es sei eine Nebenbuhlerin! Sie fiel in Ohnmacht.
„Mein Kind! Mein Kind!“rief die erschrockene Mutter; „fort Du höllische Zigeunerin!“
Esmeralda raffte schnell die unglücklichen Buchstaben zusammen, gab der Ziege ein Zeichen, und entfernte sich durch die eine Thüre, während man die ohnmächtige Fleur-de-Lys zur andern hinaustrug. Phöbus, der allein zurückgeblieben war, zeigte sich einen Augenblick unschlüssig zwischen den beiden Thüren, dann folgte er dem Zigeunermädchen.
XX. Ein Priester und ein Philosoph sind ihrer Zwei
Der Priester, den die jungen Mädchen auf der Höhe des Thurmes erblickt hatten, wo er ernst und aufmerksam dem Tanze des Zigeunermädchens zuschaute, war wirklich der Archidiakonus Claude Frollo.
Der Leser kennt die geheimnißvolle Zelle, welche sich der Priester in diesem Thurme vorbehalten hatte. Jeden Tag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, stieg er die Treppe des Thurmes hinauf, schloß sich in die Zelle ein und brachte manchmal ganze Nächte darin zu. Als er heute die Treppe hinaufstieg, hörte er den Ton des Tambourin und begab sich auf den Turm, da er von seiner Zelle aus nicht auf den Platz sehen konnte. Hier stand er, als ihn die jungen Damen erblickten, ernst, unbeweglich, in einen Anblick und einen Gedanken vertieft. Die ganze große Stadt lag unter seinen Füßen, mit dem Flusse, der sie durchströmt, mit ihren tausend Häusern, mit dem Gewimmel ihrer Bewohner; aber der Priester blickte nur auf einen Punkt und ein Wesen: den Platz unter ihm und das tanzende Zigeunermädchen. Es war schwer zu sagen, welcher Art dieser Blick war, und welche Flamme aus ihm leuchtete. Es war ein fester und doch von innerer Unruhe zeugender Blick. Wenn man den Priester so dastehen sah, in der Unbeweglichkeit seines Körpers, mehr Marmor als das Geländer, auf das er sich lehnte, das versteinerte Lächeln auf seinem Gesichte, so konnte man sagen, daß alles Leben sich in seine Augen gezogen habe. Inzwischen tanzte die Zigeunerin, schwang den Tambourin, leicht, behend, fröhlich, und fühlte nichts von dem Gewicht des furchtbaren Blickes, den der Priester von der Höhe des Thurmes auf ihr Haupt warf. Die Menge wimmelte um sie her. Von Zeit zu Zeit ließ ein Mann, der eine gelb und rothe Mütze auf dem Kopfe trug, den Kreis erweitern, wenn die Zuschauer sich allzunahe drängten, setzte sich dann wieder auf einen Stuhl in der Nähe der Tänzerin und nahm den Kopf der Ziege zwischen seine Kniee. Dieser Mensch schien der Begleiter der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo konnte von der Höhe des Thurmes seine Gesichtszüge nicht erkennen. Von dem Augenblicke an, da der Archidiakonus diesen Unbekannten gewahrte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen ihm und der Tänzerin zu teilen, und sein Gesicht wurde immer finsterer. Plötzlich durchschauerte ein Frost seinen ganzen Körper. Was ist das für ein Mann? murmelte er zwischen den Zähnen, ich habe sie doch immer allein gesehen. Mit diesen Worten verließ er plötzlich den Altan und stieg die Wendeltreppe hinab. Als er am Glockenthurme vorüber ging, sah er Quasimodo auf den Platz hinabblicken. Der Zwerg war so in Betrachtung vertieft, daß er den vorübergehenden Priester nicht bemerkte. Sein wildes Auge hatte einen ganz anderen Ausdruck angenommen, sein Blick war sanft und wie bezaubert. Das ist doch seltsam! murmelte der Priester. Ist es auch die Aegypterin, die er auf solche Weise betrachtet? Er stieg weiter hinab und kam auf den öffentlichen Platz.
„Wo ist denn die Zigeunerin hingekommen?“fragte er, sich unter die Gruppe der Zuschauer mischend, welche der Tambourin herbeigelockt hatte.
„Ich weiß es nicht,“antwortete ihm einer derselben; „ich glaube, man hat sie da in ein Haus gerufen, um ihre Kunststücke zu machen.“
An der Stelle der Aegypterin machte jetzt der Mensch mit der roth und gelben Mütze, der eine Art Hanswurst schien, seine Kunststücke. Er ging eben im Zirkel herum, die Ellenbogen in die Seiten gestemmt, den Kopf rückwärts gebogen, mit ausgestrecktem Hals und hochrothem Gesicht, einen Stuhl zwischen den Zähnen haltend. Auf diesen Stuhl hatte er eine Katze gebunden, die ihm eine Nachbarin geliehen hatte, und die jämmerlich schrie.
„Bei unserer lieben Frau!“rief der Archidiakonus aus, als eben der Hanswurst, große Tropfen schwitzend, an ihm vorüberging, „das ist ja unser Meister Peter Gringoire.“
Die strenge Stimme des Archidiakonus erschreckte den armen Teufel so sehr, daß er das Gleichgewicht verlor, und daß Stuhl und Katze unter allgemeinem Zischen auf die Köpfe der Zunächststehenden fielen. Meister Peter Gringoire, denn er war es selbst, würde wahrscheinlich einen harten Stand mit der Eigenthümerin der Katze und den zerkratzten Gesichtern um ihn her gehabt haben, wenn er nicht schnell in die Kirche entwischt wäre, wohin ihm der Priester, nachdem er ihm ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen, vorangegangen war. Die Kirche war bereits finster und verlassen. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, lehnte sich der Priester mit dem Rücken an einen Pfeiler und warf einen ernsten und festen Blick auf den Poeten und Hanswurst. Dieser Blick war kein solcher, wie Peter Gringoire ihn fürchtete, beschämt, wie er war, daß eine so ernste und gelehrte Person ihn in der Hanswurstjacke überrascht hatte. Der Blick des Priesters hatte nichts Scherzhaftes und Ironisches an sich; er war ernst, ruhig und durchdringend. Der Archidiakonus brach zuerst das Stillschweigen.
„Kommt einmal daher, Meister Peter! Ihr werdet mir Allerlei zu erzählen haben, und vor allen Dingen, wie es kommt, daß man Euch seit zwei Monaten nimmer gesehen hat, und jetzt auf der Straße findet, in einem saubern Aufzug, halb gelb und halb roth, wie ein wahrer Hanswurst und Seiltänzer.“