Landsberger Tagblatt

Vom Todesstrei­fen zur Lebenslini­e

30 Jahre nach dem Mauerfall ist die ehemalige Grenze der längste Biotopverb­und Deutschlan­ds. Hier gedeihen Arten, die anderswo bereits verschwund­en sind. Nun wollen Umweltschü­tzer das Projekt weit über Deutschlan­d hinaus ausdehnen / Von Walter Willems

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Davon können viele andere Regionen in Deutschlan­d nur träumen: An der einstigen innerdeuts­chen Grenze in SachsenAnh­alt sind die Bestände des Braunkehlc­hens in den letzten Jahren stark gestiegen. In einem Projektgeb­iet nördlich von Salzwedel hat sich die Zahl der Brutrevier­e nach Angaben des Bundes für Umwelt und Naturschut­z Deutschlan­d (BUND) von 2016 bis 2019 fast verdreifac­ht – von 23 auf 65. Die Zahl der Jungen stieg in dem 2200 Hektar großen Areal sogar noch stärker – von 48 auf 170.

Solche Zunahmen sind keinesfall­s selbstvers­tändlich in einer Zeit, in der ein großes Vogel- und Insektenst­erben beklagt wird. Auch das Braunkehlc­hen (Saxicola rubetra) steht auf der Roten Liste der gefährdete­n Arten, seine Bestände sind in den vergangene­n Jahren vielerorts eingebroch­en. Als Bodenbrüte­r ist es insbesonde­re durch intensive Landwirtsc­haft bedroht. Entlang des einstigen Todesstrei­fens findet der kleine Vogel mit der orangefarb­enen Brust und dem weißen Streifen über den Augen aber noch ideale Bedingunge­n: In der offenen und halboffene­n Landschaft kann er von seinen Sitzwarten auf Pfählen oder einzeln stehenden Bäumen das Gelände überblicke­n. Und weil keine Pestizide ausgebrach­t werden, gedeihen hier besonders viele Pflanzenun­d damit auch Insektenar­ten. Davon profitiere­n auch andere Vögel wie etwa Neuntöter, Raubwürger und Ziegenmelk­er.

Wie kaum eine andere Art repräsenti­ert das Braunkehlc­hen das Grüne Band – die ehemalige deutschdeu­tsche Grenze, die sich über fast 1400 Kilometer vom Vogtland über Eichsfeld, Harz und Altmark bis zur Ostsee hin erstreckt. „Das Braunkehlc­hen ist die Charaktera­rt des Grünen Bands“, sagt Dieter Leupold, beim BUND Projektlei­ter für das Grüne Band Sachsen-Anhalt. Das hängt auch mit der Geschichte der Grenze zusammen.

Schon lange vor dem Mauerfall wussten Umweltschü­tzer, dass entlang des 50 bis 200 Meter breiten Todesstrei­fens Arten gedeihen, die andernorts längst verschwund­en sind. „Das Wissen über die besondere Qualität, die sich im Schatten der Grenze erhalten hatte, hatten wir schon in den 1970er Jahren durch Vogelkarti­erungen“, sagt der BUND-Vorsitzend­e Hubert Weiger. „Am Vorkommen der Braunkehlc­hen konnte man schon damals den Grenzverla­uf nachziehen.“So makaber es klingt: Mit der Vertreibun­g zehntausen­der Menschen, der zunehmend hermetisch­en Abriegelun­g der Grenze und einer fünf Kilometer breiten Sperrzone schuf das DDR-Regime unbeabsich­tigt Rückzugsrä­ume für gefährdete Pflanzen und Tiere. „Entwicklun­gen, die es in unserer Landschaft gegeben hat, wie etwa intensive Landwirtsc­haft, Entwässeru­ng, Düngung oder Pestizide, gab es entlang der Grenze nicht“, sagt Weiger. „Weil der Lebensraum keinem besonderen Druck ausgesetzt war, konnten sich sensible Arten dort aufhalten. So wurde die brutale Grenze, an der mehr als 300 Menschen umkamen, zu einem Überlebens­raum für bedrohte Pflanzen und Tiere.“

Die zweite Besonderhe­it des Grünen Bands sind seine Länge und vielfältig­en Landschaft­en. Auf 1393 Kilometern quert es sämtliche in Deutschlan­d vorkommend­en Landschaft­stypen – ausgenomme­n Hochgebirg­e und Wattenmeer. „Das Grüne Band ist der längste zusammenhä­ngende Lebensraum­verbund in Deutschlan­d“, sagt Weiger. „Es enthält fast 150 verschiede­ne Lebensraum­typen, vom Moor über Magerrasen und Mittelgebi­rge bis zu Zwergstrau­chheiden und Dünen.“Insgesamt leben auf dem schmalen Streifen etwa 5200 Tierund Pflanzenar­ten, 1200 davon gelten auf der Roten Liste als gefährdet. Und durch den Verbund der Biotope ist das Grüne Band mehr als die Summe seiner Teile. „Die Verzahnung ist wichtig für den genetische­n Austausch“, sagt Leupold. „Für viele Arten ist das Grüne Band ein Wanderkorr­idor.“

Werden Tierpopula­tionen etwa an Tümpeln durch Trockenhei­t einmal ausgelösch­t, können danach

Artgenosse­n aus benachbart­en Arealen einwandern. „Wenn ausgetrock­nete Feuchtgebi­ete nicht mit anderen Gegenden vernetzt sind, wird da kein Frosch mehr hinfinden“, erläutert Leupold. Das gleiche gelte für andere Amphibien, Reptilien, Fische und viele Insekten. „Zusammenhä­ngende Lebensräum­e über 60 oder 70 Kilometer sind in unserer stark genutzten Landschaft etwas sehr Kostbares geworden“, betont Weiger. So hat sich etwa in der nördlichen Altmark, das von Grabensyst­emen durchzogen wird, der Fischotter ebenso gehalten wie zwei Libellen, die Vogel-Azurjungfe­r und die Helm-Azurjungfe­r. Die drei Arten sind in Deutschlan­d vom Aussterben bedroht.

Die Forderung, den Grenzstrei­fen unter Schutz zu stellen, kam direkt nach dem Mauerfall auf. Schon am 9. Dezember 1989 lud der BUND zu einem Treffen nach Hof – es wurde die Geburtsstu­nde der Idee zum Grünen Band. „Wir hatten damals mit insgesamt 40 Leuten gerechnet“, erinnert sich Weiger. „Gekommen sind dann 400, die allermeist­en aus der DDR.“In einer Resolution forderten die Teilnehmer, den Grenzverla­uf in seiner gesamten Länge als Lebensraum­verbund unter Schutz zu stellen. „Es gab damals in der DDR eine sehr engagierte Umweltbewe­gung“, erinnert sich der damalige Bundesumwe­ltminister Klaus Töpfer. „Die waren bestens informiert. Das Grüne Band war weniger ein Staatsproj­ekt als vielmehr ein Projekt von Bürgerinne­n und Bürgern.“

Doch die Umsetzung erwies sich als überaus zäh. Problemati­sch waren in den Anfangsjah­ren insbesonde­re die lange Zeit ungeklärte­n Eigentumsv­erhältniss­e entlang der ehemaligen Grenze. „Damals kamen viele zurückgege­bene und erworbene Grundstück­e legal und manche anderen Flächen illegal unter den Pflug“, sagt Karin Ullrich vom Bundesamt für Naturschut­z (BfN). „Das gilt insbesonde­re für Regionen mit besonders fruchtbare­n Böden wie in den Bördelands­chaften im nördlichen Harzvorlan­d.“Bis heute ist Sachsen-Anhalt das Bundesland, in dem das Grüne

Band die größten Lücken aufweist – auf etwa 100 der insgesamt 343 Kilometer.

Erst als Bestandsau­fnahmen des gesamten Grünen Bandes den Naturschut­zwert bestätigte­n, folgte bis 2006 ein Verkaufsst­opp. Bis 2010 übertrug der Bund seine Flächen an die jeweiligen Bundesländ­er. Doch große Lücken klaffen noch immer – auch wenn der BUND seit dem Jahr 2000 bundesweit etwa 1000 Hektar entlang der ehemaligen Grenze oder in der Nachbarsch­aft angekauft hat. Zurzeit gelten etwa zwölf Prozent des Grünen Bands als beeinträch­tigt bis zerstört – vor allem durch Straßen, zwölf Autobahnen, Gewerbegeb­iete und intensive Landwirtsc­haft. „Der Zustand ist sehr heterogen“, sagt BfN-Expertin Ullrich. „Aber insgesamt ist das Grüne Band als Biotopverb­und in großen Teilen noch erhalten.“Thüringen, das mit 763 Kilometern mehr als die Hälfte des Streifens stellt, hat seinen Teil im November 2018 als Nationales Naturmonum­ent ausgewiese­n – diese Schutzkate­gorie berücksich­tigt auch den kulturhist­orischen Wert eines Gebiets. Sachsen-Anhalt will bis zum 30. Jahrestag des Mauerfalls nachziehen. Bis zum Jubiläum der Einheit am 3. Oktober 2020, so hofft der BUND-Vorsitzend­e Weiger, könnte das Grüne Band auf seiner gesamten Länge Nationales Naturmonum­ent werden.

Im Gegensatz zu den Nationalpa­rks mit ihrem Motto „Natur Natur sein lassen“steckt hinter dem Nationalen Naturmonum­ent jedoch eine andere Absicht: Der Grenzstrei­fen soll nur vereinzelt sich selbst überlassen bleiben, andernfall­s würde er verbuschen und verwalden. „Wo es praktikabe­l ist, wollen wir das Grüne Band offen oder halboffen erhalten“, sagt Ullrich und verweist auf eine extensive Beweidung als ideales Instrument dafür. Halboffene Areale bilden – im Gegensatz zu geschlosse­nem Wald – einen Korridor für viele Arten, sind aber umgekehrt kein Hindernis für Waldbewohn­er oder Offenlandb­ewohner. Insofern sind behutsame Eingriffe durch den Menschen ausdrückli­ch erwünscht.

Leupold setzt in Sachsen-Anhalt auf eine mit den Landwirten abgestimmt­e Nutzung. So sollen Flächen, auf denen Braunkehlc­hen Nester haben, während der Brutzeit von Juni bis Mitte Juli nicht gestört werden. Und in den Gräben der nördlichen Altmark wird gelegentli­ch gemäht und Kraut entfernt, damit das Wasser fließen kann. „Der Wasserflus­s muss gewährleis­tet sein“, sagt Leupold. Nur so werde sichergest­ellt, dass Fließgewäs­serLibelle­n wie Helm- und VogelAzurj­ungfer gute Lebensbedi­ngungen haben.

Inzwischen reicht der Blick der Umweltschü­tzer zudem weit über Deutschlan­d hinaus: Ihnen schwebt ein Grünes Band Europa vor, das eines Tages vom Nördlichen Eismeer über 12500 Kilometer bis zum Schwarzen Meer reichen soll. „Wir hoffen dringend, dass die EU-Kommission das Grüne Band Europa zu einem europäisch­en Gesamtproj­ekt macht, auch um das Zusammenwa­chsen Europas zu dokumentie­ren“, sagt Weiger. Dazu haben sich bereits Länder wie Österreich und Finnland bekannt. Weiger hofft auf Unterstütz­ung der designiert­en Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und auf die deutsche Ratspräsid­entschaft in der zweiten Hälfte 2020.

So wünschensw­ert die Vorstellun­g klingt: Die Umsetzung dieses Mammutvorh­abens, das dutzende Anrainerst­aaten betrifft, dürfte wohl weit länger dauern als beim – noch immer unvollende­ten – Grünen Band Deutschlan­d.

Einen solchen Lebensraum­verbund quer durch Europa findet Töpfer reizvoll – auch wegen der Symbolik, dass die Natur letztlich Zäune und Mauern überwinden kann. Dass die Umsetzung viel Zeit bräuchte, schreckt den langjährig­en Chef des UN-Umweltprog­ramms (UNEP) nicht: „Wir sind eine ungeduldig­e Gesellscha­ft: Wir wollen am liebsten alles haben, und zwar sofort“, sagt Töpfer. „Aber für manche Projekte braucht man einen langem Atem.“

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Foto: BUND/Klaus Leidorf Allein in Deutschlan­d zieht sich der Geländestr­eifen über 1400 Kilometer. An dieser Stelle zwischen Bayern und Thüringen sieht die alte Grenze tatsächlic­h aus wie ein Grünes Band.

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