Landsberger Tagblatt

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (31)

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Na sowas“, meint Caesar und stellt mich den Damen vor: „Ein ehemaliger Kollege.“

Die Dicke mustert mich, und das Fräulein Nelly blickt in die Luft. Sie richtet ihren Büstenhalt­er.

Wir setzen uns.

Der Schnaps brennt und wärmt. Wir sind die einzigen Gäste. Die Besitzerin setzt sich die Brille auf und liest die Zeitung. Sie beugte sich über die Bar, und es sieht aus, als würde sie sich die Ohren zuhalten.

Sie weiß von nichts und möchte auch von nichts wissen. Wieso sind die beiden Damen Regenwürme­r?

„Was geht hier eigentlich vor sich?“frage ich Caesar. Er beugt sich ganz nahe zu mir: „Ich wollte Sie ursprüngli­ch eigentlich vorher gar nicht einweihen, verehrter Kollega, denn es ist und bleibt eine ordinäre Geschichte, und Sie sollten nichts damit zu tun haben; aber dann dachte ich, es könnt vielleicht doch nichts schaden, wenn wir noch einen Zeugen hätten.

Wir drei, die beiden Damen und ich, wollten nämlich die Tat rekonstrui­eren.“„Rekonstrui­eren?!“„Gewisserma­ßen.“

„Aber wieso denn?!“

„Wir wollten, daß der Fisch den Mord wiederholt.“„Wiederholt?!“

„Ja, Und zwar nach einem altbewährt­en genialen Plan. Ich wollte nämlich die ganze Affäre in einem Bett rekonstrui­eren.“

„In einem Bett?!“„Passen Sie auf, Kollega“, nickt er mir zu und illuminier­t seinen Totenkopf, „das Fräulein Nelly sollte den Fisch vor dem Kino erwarten, denn er meint nämlich, daß sie ihn liebt.“

Er lacht.

Aber das Fräulein Nelly lacht nicht mit. Sie schneidet nur eine Grimasse und spuckt aus.

„Spuck hier nicht herum!“grinst die Dicke.

„Das freie Ausspucken ist behördlich verboten!“

„Die Behörde darf mich“, beginnt Nelly.

„Also nur keine Politik!“fällt ihr Caesar ins Wort und wendet sich wieder mir zu: „Hier in dieser Loge sollte unser lieber Fisch besoffen gemacht werden, bis er nicht mehr hätt schwimmen können, so daß man ihn sogar mit der Hand hätt fangen können – dann wären die beiden Damen mit ihm dort hinten durch die Tapetentür aufs Zimmer gegangen.

Und hierauf hätte sich folgericht­ig und logischerw­eise folgendes entwickelt:

Der Fisch wäre eingeschla­fen. Die Nelly hätte sich auf den Boden gelegt, und dies rundliche Kind hätte sie mit einem Leintuch zugedeckt, ganz und gar, als wär sie eine Leiche.

Dann hätt sich meine liebe Rundliche auf den schlafende­n Fisch gestürzt und hätt gellend geschrien: ,Was hast du getan?!

Menschensk­ind, was hast du getan?!‘

Und ich wär ins Zimmer getreten und hätt gesagt: ,Polizei!‘ und hätts ihm auf den Kopf zugesagt, daß er in seinem Rausch die Nelly erschlagen hat, genau so wie seinerzeit den anderen – wir hätten eine große Szene aufgeführt, und ich hätt ihm auch ein paar Ohrfeigen gegeben – ich wette, Kollega, er hätt sich verraten!

Und wenns auch nur ein Wörtchen gewesen war, ich hätt ihn aufs Land gezogen, ich schon!“

Ich muß lächeln.

Er sieht mich an, fast unwillig. „Sie haben recht“, sagt er, „der Mensch denkt und Gott lenkt – wenn wir uns ärgern, daß einer nicht anbeißt, dann zappelt er vielleicht schon im Netz.“

Es durchzuckt mich.

Im Netz?!

„Lächeln Sie nur“, höre ich Caesar, „Sie reden ja immer nur von dem unschuldig­en Mädel, aber ich denk auch an den toten Jungen!“Ich horche auf.

An den toten Jungen?

Ach so, der N – den hab ich ja ganz vergessen.

Ich dachte an alle, alle – sogar an seine Eltern denke ich manchmal, wenn auch nicht gerade liebevoll – aber nie an ihn, nie, er fiel mir gar nicht mehr ein.

Ja, dieser N!

Der erschlagen worden war. Mit einem Stein.

Den es nicht mehr gibt.

Einundvier­zigstes Kapitel Das Gespenst

Ich verlasse die Lilie.

Ich gehe rasch heim, und die Gedanken an den N, den es nicht mehr gibt, lassen mich nicht los.

Sie begleiten mich in mein Zimmer, in mein Bett.

Ich muß schlafen!

Ich will schlafen!

Aber ich schlafe nicht ein. Immer wieder höre ich den N: „Sie haben es ja ganz vergessen, Herr Lehrer, daß Sie mitschuldi­g sind an meiner Ermordung. Wer hat denn das Kästchen erbrochen – ich oder Sie?

Hatte ich Sie denn damals nicht gebeten: Helfen Sie mir, Herr Lehrer, ich habs nämlich nicht getan – aber Sie wollten einen Strich durch eine Rechnung ziehen, einen dicken Strich – ich weiß, ich weiß, es ist vorbei!“

Ja, es ist vorbei.

Die Stunden gehen, die Wunden stehen.

Immer rascher werden die Minuten.

Sie laufen an mir vorbei. Bald schlägt die Uhr. „Herr Lehrer“, höre ich wieder den N, „erinnern Sie sich an eine Geschichts­stunde im vorigen Winter. Wir waren im Mittelalte­r, und da erzählten Sie, daß der Henker, bevor er zur Hinrichtun­g schritt, den Verbrecher immer um Verzeihung bat, daß er ihm nun ein großes Leid antun müsse, denn eine Schuld kann nur durch Schuld getilgt werden.“

Nur durch Schuld?

Und ich denke: bin ich ein Henker?

Muß ich den T um Verzeihung bitten?

Und ich werd die Gedanken nicht mehr los. Ich erhebe mich. „Wohin?“

„Am liebsten weg, gleich weit weg.“

„Halt!“

Er steht vor mir, der N.

Ich komm durch ihn nicht durch. Ich mag ihn nicht mehr hören! Er hat keine Augen, aber er läßt mich nicht aus den Augen.

Ich mache Licht und betrachte den Lampenschi­rm.

Er ist voll Staub.

Immer muß ich an den T denken. Er schwimmt um den Köder – oder?

Plötzlich fragt der N: „Warum denken Sie nur an sich?“„An mich?“

„Sie denken immer nur an den Fisch. Aber der Fisch, Herr Lehrer, und Sie, das ist jetzt ein und dasselbe.“

„Dasselbe?!“

„Sie wollen ihn doch fangen – nicht?“

„Ja, gewiß – aber wieso sind ich und er ein und dasselbe?“

„Sie vergessen den Henker, Herr Lehrer – den Henker, der den Mörder um Verzeihung bittet. »32. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird …
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird …

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