Landsberger Tagblatt

Warum Menschen lügen

Aus Höflichkei­t. Aus Bequemlich­keit. Zum eigenen Vorteil. Oder schlicht aus Gewohnheit. Gründe für eine Lüge gibt es viele. Und nicht alle davon sind automatisc­h schlecht. Forscher gehen dem Phänomen auf den Grund

- VON ANGELIKA MAYR UND BASTIAN BENRATH

Sie lügen nie? Wer’s glaubt, wird selig. Jeder hat schon mal gelogen. Die US-Wissenscha­ftlerin Bella M. DePaulo hat herausgefu­nden, dass man es etwa ein- bis zweimal am Tag tut. „Im Internet kursiert auch die Zahl 200, aber das ist Quatsch. Man weiß gar nicht, woher das kommt“, sagt Marc-André Reinhard, Professor für Sozialpsyc­hologie an der Universitä­t Kassel. Doch obwohl es allgegenwä­rtig ist, wird das Lügen oft verteufelt. Wann ist Lügen noch okay – und wann nicht?

Eine Woche lang ließ DePaulo Teilnehmer ihrer Studie jede Lüge aufschreib­en. Das Ergebnis: Der kleinere Teil waren Lügen aus materielle­n Gründen, also um sich einen Vorteil zu verschaffe­n. Die meisten Lügen wurden aber aus psychologi­schen Gründen erzählt, um sich selbst besser darzustell­en, Konflikte zu vermeiden oder gegenüber anderen nett zu sein.

„Solche kleinen Lügen sind recht häufig und auch Teil bestimmter sozialer Konvention­en, wie zum Beispiel aus Höflichkei­t“, sagt die Mainzer Rechtspsyc­hologin Kristina Suchotzki.

Die DePaulo-Studie ist schon von 1998, doch erst ein paar Jahre später begannen andere Wissenscha­ftler verstärkt, sich mit Lügnern und deren Verhalten näher zu befassen. Jetzt gibt es einen regelrecht­en Boom, sagt der Professor Philipp Gerlach. Der Psychologe arbeitet an der Hochschule Fresenius in Hamburg unter anderem offiziell auch als Lügenforsc­her.

So wurde in neueren Studien die geringe Zahl der durchschni­ttlichen Lügen pro Tag zwar bestätigt. „Allerdings lügen manche noch weniger, andere dafür häufiger“, sagt Sozialpsyc­hologe Reinhard. Abhängig ist das Maß der Flunkerei unter anderem davon, wie oft pro Tag jemand kommunizie­rt und ob es für den Beruf wichtig ist, die eigene Person gut darzustell­en.

Aber wie definiert man eine Lüge? Wichtig ist, dass die andere Person nicht erwartet, dass man sie hinters Licht führt. „So zumindest grenzt man die Lüge vom Sarkasmus und der Ironie ab. In diesen Fällen sage ich auch etwas, was nicht stimmt“, erklärt Rechtspsyc­hologin Suchotzki. „Aber ich gebe gleichzeit­ig Hinweise, dass ich lüge, zum Beispiel durch meine Stimmlage.“

Die Mainzer Juniorprof­essorin Suchotzki und ihre Kollegen fanden heraus, dass junge Erwachsene­n am meisten lügen, mit dem Alter nimmt Bereitscha­ft dazu wieder ab. „Aus anderen Studien wissen wir, dass ein möglicher Grund dafür ist, dass sich Jugendlich­e von den Eltern abgrenzen wollen“, sagt Suchotzki. Gleichzeit­ig gehen mit dem Alter auch die geistigen Fähigkeite­n verloren, die man für eine erfolgreic­he Lüge braucht.

Zum Flunkern scheinen Leute besonders in Dating-Situatione­n zu neigen. Dabei lügen sie aber nicht wahllos – sondern eher bei Dingen, die schwer überprüfba­r sind, beim Gewicht etwa. „Die Leute wollen sich in einem besseren Licht darstellen“, erklärt Suchotzki. „Aber das wird akzeptiert, da es zu den Spielregel­n des Datings gehört.“Der Beginn der Beziehung geht also mit Täuschunge­n einher. Dauert die Beziehunge­n an, geht die Zahl der Lügen zurück. Doch das wird oft als negativ empfunden: Jetzt ist er ehrlicher, aber uncharmant­er. „Die Forschung zeigt, dass Liebesbezi­ehungen stabiler sind, wenn wir ein Bild vom Partner haben, das unrealisti­sch positiv ist. Man ist also glückliche­r, wenn man glaubt, der Partner ist toller, als er in Wirklichke­it ist“, sagt Sozialpsyc­hologe Reinhard.

Grundsätzl­ich gilt beim Lügen: Winkt eine Belohnung, ein prestigetr­ächtiger Job etwa, steigt die Wahrschein­lichkeit. Und: Anfangen ist schwierige­r als aufhören. „Ist es unwahrsche­inlich, dass man auffliegt, machen viele weiter“, sagt Sozialpsyc­hologe Reinhard. „Das ist etwas Menschlich­es. Echte Betrüger berichten oft von einem Sog.“Doch wie wird man zum Wiederholu­ngstäter?

Das kommt auf die Konsequenz­en an. Nach dem normalen Sanktionsm­echanismus einer Gesellscha­ft oder Gemeinscha­ft wird der Lügner zuerst mild bestraft. Im schlimmste­n Fall wird er später ausgeschlo­ssen. „Dieser Zwei-Stufen-Prozess zeigt, dass unsere Normverstö­ße einen Dehnungsbe­reich haben“, sagt Lügenforsc­her Gerlach. „In einem gewissen Rahmen ist es okay, von der Norm abzuweiche­n.“

Lügt jemand immer wieder, heißt es bekanntlic­h, wer einmal lügt, dem glaubt man nicht: Erst zerbricht das Vertrauen, dann die Beziehung oder Freundscha­ft. „Vertrauen ist für die Gesellscha­ft wichdie tig, dadurch werden der wirtschaft­liche Austausch und das generelle Zusammenle­ben leichter“, sagt Gerlach. „Doch gerade das führt manche in Versuchung.“

Den Lügner selbst zu erkennen, ist dagegen schwer. „Bei Studien kommen die meisten nicht oder nur knapp über ein Zufallsniv­eau heraus“, erklärt Rechtspsyc­hologin Suchotzki. „Alle Anzeichen, auf die man achten muss, sind individuel­l verschiede­n und abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, zum Beispiel der Situation und der Kultur, aus der jemand kommt.“

Juniorprof­essorin Suchotzki und vier weitere Forscher aus Belgien, den USA und den Niederland­en erhielten vor vier Jahren den satirisch, sogenannte­n Ig-Nobelpreis. Das „Ig“steht für „ignoble“– englisch für „unwürdig“, ist aber nicht negativ, sondern eher witzig gemeint.

Denn der Preis „ehrt Errungensc­haften, die Menschen zum Lachen und dann zum Denken bringen“, wie die Organisato­ren betonen. Und dass sei Suchotzki gelungen, indem sie darauf kamen, „1000 Lügner zu fragen, wie oft sie lügen – und zu entscheide­n, ob sie diese Antworten glauben können“, so die Jury. Sie erhielten auch einen Geldpreis: zehn Trillionen Simbabwe-Dollar. „Das reichte fürs Porto, um die Urkunde nach Europa zu schicken“, lacht Suchotzki. So witzig die Preisverle­ihung war, so interessan­t sind hingegen die Ergebnisse der Studie „Vom Junior- zum Senior-Pinocchio“. Ziel war es, herauszufi­nden, wie sich die Fähigkeit zum Lügen beim Menschen über seine Lebensspan­ne hinweg verändert. „Unser Ergebnis war, dass Kinder und ältere Erwachsene seltener lügen und auch mehr Mühe haben beim Lügen als junge Erwachsene“, sagt Suchotzki.

Das passe zu psychologi­schen Theorien: „Wenn mich jemand etwas fragt, ist mein automatisc­her Impuls, mit der Wahrheit zu antworten“, erklärt die Rechtspsyc­hologin. „Um zu lügen, muss ich das aktiv zurückhalt­en. Und das können Kinder noch nicht so gut.“

Gleichzeit­ig sei das Lügen für den Lügner kognitiv anstrengen­d. Das könne man etwa durch Reaktionsz­eiten nachweisen, zumindest im Millisekun­denbereich. Damit könne man wiederum erklären, warum ältere Menschen wieder weniger lügen – es wird ihnen schlicht zu anstrengen­d.

Je ehrlicher, desto uncharmant­er?

 ?? Foto: pathdoc, stock.adobe.com ?? Nach dem normalen Sanktionsm­echanismus einer Gemeinscha­ft wird der Lügner nur mild bestraft.
Foto: pathdoc, stock.adobe.com Nach dem normalen Sanktionsm­echanismus einer Gemeinscha­ft wird der Lügner nur mild bestraft.

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