Kleine Rädchen in ungerechter Gesellschaft
Horvaths „Geschichte vom Fräulein Pollinger“als berührendes Bühnenstück
Landsberg Was ist das nur, das uns in den Werken von Ödön von Horvath noch immer so eigentümlich anrührt? Die Produktion „36 Stunden“von Max Pfnür nach Horvaths Roman „Die Geschichte vom Fräulein Pollinger“arbeitet es jedenfalls treffsicher heraus. Der äußerst tragische Grundton der Geschichte wird von der Leichtigkeit der Darstellung, ja dem innewohnenden Witz, immer wieder aufgelockert. Das Ergebnis ist ein berührendes und unterhaltsames Bühnenstück, ein gekonnter Zeitraffer über 36 Stunden im Leben des Fräulein Pollinger in den 1930er-Jahren.
Max Pfnür und Pia Kolb sind nur zu zweit auf der Bühne, doch sie sind Sprecher und Figuren zugleich, geschickt und minimalistisch verdeutlicht durch Beleuchtung und Kleidung. Wenn die beiden beginnen, die Geschichte zu erzählen, wird der Zuschauer sofort hineingesaugt ins Geschehen, identifiziert sich unmittelbar mit den Protagonisten – der arbeitslosen jungen Agnes Pollinger, Vollwaise und bei der Tante in München wenig willkommen, und dem Eugen, einem ebenfalls arbeitslosen jungen Österreicher, der als „nicht Reichsdeutscher“keinen Anspruch auf deutsche Arbeitslosenunterstützung hat. Das Schicksal und die Notlage der beiden würfelt sie nun hin und her und macht aus der rührend unschuldigen, aber schutzlos ausgelieferten Agnes am Ende eine abgeklärte Prostituierte.
Auch Eugen verliert seine Illusionen über die romantische Liebe. Sehr eindrücklich ist zu Beginn des Stücks die Beschreibung des Ersten
Weltkriegs: Unter einem Bombengewitter aus Beleuchtung und Ton zählen die Darsteller die furchtbaren Todesarten der unzähligen Kriegsopfer auf, eine Liste, die endlos erscheint. Agnes und Eugen nehmen all diese Katastrophen als Normalität hin und versuchen, irgendwie zurechtzukommen.
Im Lauf des Stücks verwandelt sich Max Pfnür von Eugen in den
Fotografen Kastner, den Kunstmaler LMA und den Autobesitzer Harry, jeder mit seinem eigenen Dialekt. Für seine Einlage als Cowboy in einem Kino-Western, den Eugen sich ansieht, bekommt er begeisterten Szenenapplaus.
Pia Kolb überzeugt durch eine Agnes, die bei aller Unschuld praktisch denkt und für eine Fahrt im Cabriolet und ein Schnitzel mit Gurkensalat ihren Eugen sausen lässt. Agnes und Eugen sind die typischen Horvath’schen Figuren: scharfsichtig erfasste und exakt getroffene Typen aus dem Kleine-Leute-Milieu, schmerzhaft realistisch gezeichnet. Ihre Sprache besteht aus vorgeformten Phrasen gesellschaftlicher Allgemeinplätze, und diese Sprache formt ihr Denken und ihre Werte. Sie sind Opfer, kleine Rädchen, einer zutiefst ungerechten Gesellschaft ausgeliefert, die von Dummheit, Diskriminierung und Gefühlskälte geprägt ist. Doch trotz verlorener Illusionen bleibt am Ende ein Hoffnungsschimmer: Eugen verschafft Agnes eine Arbeitsstelle.
Pia Kolb und Max Pfnür haben mit ihrer Produktion „36 Stunden“unter der Regie von Georg Büttel die Sympathien des Landsberger Publikums im Stadttheater erobert und erhielten sehr lang anhaltenden Applaus.