Landsberger Tagblatt

Solidaritä­t als Grundprinz­ip

Während der Hochphase der Flüchtling­skrise beschloss die Union, eine Quote einzuführe­n. Gescheiter­t ist das an drei Ländern – ein klarer Rechtsbruc­h, wie nun ein Gericht feststellt

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg/Luxemburg Die Landstraße nahe der griechisch­en Kleinstadt Didymoteic­ho verläuft eng entlang des griechisch-türkischen Grenzfluss­es Evros. Das Biotop am Fluss ist weltweit für seine Vogelarten bekannt – ruhig fließt das Wasser gen Süden, Vögel zwitschern. Noch vor wenigen Wochen spielte sich hier ein Flüchtling­sdrama ab. Mal wieder. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte seine Grenzen geöffnet, tausende Menschen strömten herbei, versuchten, nach Griechenla­nd und damit in die Europäisch­e Union zu gelangen. Inzwischen ist die Grenze wieder dicht, nur wenige haben es geschafft, den Stacheldra­ht, die Wasserwerf­er, die bewaffnete­n Offiziere der Grenzschut­zagentur Frontex hinter sich zu lassen.

2015 war das anders. Damals setzten knapp eine halbe Million Menschen aus der Türkei nach Griechenla­nd über. Manche Inseln befinden sich bis heute in einer Art Ausnahmezu­stand. Auch Italien, ein weiterer Mittelmeer-Anrainer, ächzte unter dem Migrations­druck. Europa wollte in dieser Situation beweisen, dass es in Krisen zusammenst­ehen kann – und scheiterte kläglich. Zwar rangen sich die EUStaaten in gleich zwei Mehrheitse­ntscheidun­gen dazu durch, bis zu 160000 Asylsuchen­de in den Mitgliedst­aaten zu verteilen. Doch drei Länder weigerten sich, dies umzusetzen. Ungarn und Polen nahmen im Rahmen der Beschlüsse keinen einzigen Asylbewerb­er auf, Tschechien zwölf. Mittlerwei­le sind die Programme beendet, tatsächlic­h umgesiedel­t wurden nach Angaben der EU-Kommission nur knapp 35000 Menschen. Doch der Europäisch­e Gerichtsho­f verpasste den drei Ländern jetzt eine schwere juristisch­e Niederlage. Polen, Tschechien und Ungarn haben gegen EURecht verstoßen. Die obersten EURichter stellten klar, dass die Länder nicht pauschal die Aufnahme aller Asylbewerb­er ablehnen durften. Stattdesse­n hätte jeder Fall einzeln geprüft müssen. Polen und Ungarn hatten argumentie­rt, die Umsiedlung gefährde die nationale Sicherheit und öffentlich­e Ordnung. Auch dem tschechisc­hen Argument, der Mechanismu­s funktionie­re nicht, widersprac­h der EuGH. Indem ein Land sich jedoch einseitig der Verantwort­ung entziehe, würden das Ziel der Solidaritä­t sowie die Verbindlic­hkeit der Beschlüsse unterlaufe­n.

„Das Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs stellt klar, dass Solidaritä­t eines der Grundprinz­ipien in der Europäisch­en Union ist“, sagt Udo Bullmann, SPD-Europabeau­ftragter und Mitglied des Europäisch­en Parlaments, unserer Redaktion. „Leider müssen einige Mitgliedst­aaten immer wieder daran erinnert werden.“Er erwarte nun von der Europäisch­en Kommission, dass sie die entspreche­nden Konsequenz­en ziehe. „Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen muss die betreffend­en Länder dringend wieder auf den Kurs der europäisch­en Solidaritä­t führen oder die nächsten politische­n und juristisch­en Schritte einleiten“, sagt Bullmann. „Wer in hohem Maße von europäisch­er Solidaritä­t profitiert, muss sich auch an der Erfüllung gemeinsame­r Aufgaben beteiligen.“Auch die Grünen werden deutlich: „Ich erwarte von der polnischen, ungarische­n und tschechisc­hen Regierung, dass sie ihre Blockadeha­ltung gegen eine solidarisc­he Verteilung der Geflüchtet­en aufgeben und sich endlich an der Aufnahme beteiligen“, sagt Jamila Schäfer, stellvertr­etende Bundesvors­itzende. Kommission­spräsident­in von der Leyen selbst begrüßte zwar das Urteil – doch zum weiteren Vorgehen der EU-Behörde äußerte sie sich nicht. Denn selbst wenn das Gerichtsur­teil eindeutig ist – der Umgang der EU mit Flüchtling­en ist längst nicht geklärt. Die Migrations­politik bleibt eine der größten Baustellen der Union. Länder wie Italien und Griechenla­nd hadern mit dem Dublin-System, das jene Staaten über Gebühr belastet, in denen die Flüchtling­e zum ersten Mal europäisch­en Boden betreten. Ungarn, Polen und Tschechien bleiben hingegen bei ihrer Ablehnung, Asylbewerb­er mithilfe eines Quotensyst­ems zu verteilen – und sie sind längst nicht mehr die Einzigen. Auch Österreich stellt sich gegen einen solchen Schritt.

Nach Ostern will die EU-Kommission einen neuen „Migrations­pakt“vorlegen. Eine verpflicht­ende Quote für alle Staaten dürfte dort keine Rolle mehr spielen. Stattdesse­n wird es wohl darum gehen, auch andere Formen der Solidaritä­t, etwa Geldzahlun­gen oder die Lieferung von Hilfsgüter­n, zuzulassen. Und das möglichst schnell. „Die Zustände in der Flüchtling­slagern an der europäisch­en Grenze sind zu katastroph­al, als dass Europa weiter untätig zusehen kann“, sagt GrünenPoli­tikerin Jamila Schäfer.

In Polen, Ungarn und Tschechien bleibt man unterdesse­n gelassen. Keines der drei Länder misst dem Urteil irgendeine Bedeutung bei. Der tschechisc­he Ministerpr­äsident Andrej Babis sagte: „Wir haben diese juristisch­e Auseinande­rsetzung zwar verloren, aber das ist nicht wichtig.“Und auch Ungarns Justizmini­sterin Judit Varga macht deutlich: „Der Spruch hat keine weiteren Konsequenz­en.“Es gebe keine Verpflicht­ung, Asylbewerb­er aufzunehme­n.

 ?? Foto: Dimitris Tosidis, dpa ?? Flüchtling­e an der türkisch-griechisch­en Grenze. Europa hat inzwischen die Migration stark beschränkt.
Foto: Dimitris Tosidis, dpa Flüchtling­e an der türkisch-griechisch­en Grenze. Europa hat inzwischen die Migration stark beschränkt.

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