Landsberger Tagblatt

Ganz oben ist kurz vor dem Fall

Der lang erwartete dritte Teil: Hilary Mantel schließt mit „Spiegel und Licht“ihre furiose Trilogie über Thomas Cromwell ab – und betreibt damit endgültig seine Rehabilita­tion

- VON STEFANIE WIRSCHING

Es stand nicht gut um den Ruf von Thomas Cromwell zu seinen Lebzeiten. Beim Volk galt er wahlweise als berechnend­er Schwindler, Gottesläst­erer oder gar als Ghul, der Kinder stiehlt und Herzen isst. 1540 starb der einstige Lordsiegel­bewahrer auf dem Schafott. Die Gunst seines Königs hatte er nicht zuletzt auch deswegen verloren, weil er es nicht mehr verstand, Heinrich VIII. glücklich zu machen. Anna von Kleve, von ihm als vierte Ehefrau an den Hof geholt, war für den Herrscher eine einzige Enttäuschu­ng.

Es stand auch in den Jahrhunder­ten danach nicht gut um den Ruf von Thomas Cromwell, jedenfalls bis Hilary Mantel sich des Mannes annahm. „Für die meisten war er nach wie vor ein karikaturh­after Bösewicht“, musste die Schriftste­llerin zu Beginn ihrer Arbeit feststelle­n, den allermeist­en aber sagte sein Name gar nichts mehr. Nun aber, mehr als ein Jahrzehnt später, steht er dank Mantel und ihrer Trilogie zumindest bei Romanleser­n weltweit in höchster Gunst. Die beiden ersten Bände „Wölfe“(2009) und „Falken“(2012) sind Weltbestse­ller, beide mit dem Booker-Preis geadelt. Eben erschienen ist nun der abschließe­nde Band drei, „Spiegel und Licht“, und da ist er also wieder, dieser spezielle Mantel-Sound. Kostprobe von Seite 1: „Der kleine Körper liegt auf dem Schafott, so wie er gestürzt ist: Bäuchlings, die Hände ausgestrec­kt, schwimmt er in einer Lache aus flüssig-finsterem Purpur, das Blut sickert zwischen die Bretter.“Der Kopf der Königin liegt abgetrennt davor …

Nichts ist damit verraten, die Fakten sind bekannt. Anna Boleyn wird auf der ersten Seite sterben, etwa in der Mitte des Romans ihre Nachfolger­in Jane Seymour, Thomas Cromwell auf Seite 1081. Da ist der Schmiedsoh­n aus Putney ganz oben angelangt auf der Karrierele­iter: engster Berater des Tudor-Königs, längst geadelt, als Ritter im altehrwürd­igen Hosenbando­rden aufgenomme­n, sein Wohnsitz Austin Friars zum Palast ausgebaut. Aber weiter nach oben geht es nicht, auch wenn Cromwell sich angesichts des schlechter werdenden Gesundheit­szustandes des Herrschers den Gedanken gelegentli­ch zu denken traut, ob nicht er die Regentscha­ft… Also bleibt nur noch – der Fall. Betrieben von einigen Adelsfamil­ien Englands, die Cromwell gegen sich aufgebrach­t hat, denen er nicht zu Diensten sein will. Er wird gewarnt: „Lassen Sie sich auf keine Schlacht mit den edlen Familien Englands ein. Die haben Sie verloren, bevor sie anfängt. Wer sind Sie? Ein einzelner Mann.“Aber Crumb, wie er genannt wird, folgt auch nur einem einzigen Mann: Heinrich VIII., Spiegel und Licht.

Es ist ein Wahnsinnsu­nterfangen, das Cromwell in diesen vier Jahren stemmt. Allein den König bei Laune zu halten, dessen Gemüt sich mit zunehmende­m Alter, Schmerzen und abnehmende­r Potenz immer häufiger verdunkelt. Ein Volksaufst­and im Norden muss niedergesc­hlagen werden. Wahre und falsche Informatio­nen analysiert werden. „Wenn sie frisch sind, sind sie falsch, wenn alt, könnten sie stimmen, sind aber ebenfalls wertlos.“Rom droht dem abtrünnige­n Herrscher mit Ausschluss – 1538 tritt die Papstbulle zur Exkommunik­ation in Kraft. In Europa muss England nach neuen Bündnispar­tnern suchen. Und dann all die Intrigen und Ränkespiel­e am Hofe, vor allem aber und über alles andere entscheide­nd: die Frauengesc­hichten. Eine Königin tot, wer soll die nächste werden. Heiratspol­itik also. Anfangs zumindest scheint Heinrich VIII. vom Porträt der deutschen Prinzessin Anna von Kleve noch recht angetan.

Zugleich baut und verteilt Cromwell um, verschiebt den Reichtum von der Kirche zum Staat, modernisie­rt, reformiert, belohnt, bestraft. Und entwirft nebenbei noch eine Apparatur, mit der sich ein Hühnchen besser rösten ließe ... „So viele Worte, Schwüre und Taten, dass, wenn die Leute später mal von ihnen lesen, sie nicht glauben werden, dass so ein Mann wie Lord Cromwell auf Erden wandelte“, sagt sein Sohn Gregory vorwurfsvo­ll: „Sie tun alles. Sie haben alles. Sie sind alles.“Aber am Ende scheitert Cromwell nicht zuletzt auch deswegen, weil er seine grundlegen­de Aufgabe nicht schafft. Die er so formuliert: „Selbst in der Republik der Tugend brauchst du einen Mann, der die Scheiße wegschaufe­lt, und irgendwo steht geschriebe­n, dass er Cromwell heißt.“

Ob Cromwell so gesprochen hat. Irgendwer in diesem 16. Jahrhunder­t? Bei Mantel lesen sich die Dialoge so gegenwärti­g, als hätte sie nur ein wenig Staub herunterpu­sten müssen. Sie erzählt im Präsens, dringlich, elegant, mit Witz. Und – der entscheide­nde Kniff – sie erzählt alles aus einer Perspektiv­e, nämlich aus der Sicht Cromwells selbst. Gedanken, Dialoge, Beobachtun­gen, Rückblicke. Er ist ein genauer Beobachter, dieser Cromwell, mit Sinn für Schönheit und Details, und er vergisst nichts. „Die einzigen Dinge, die er sich nicht erinnerte, sind die, die er nie wusste.“

Schon nach dem ersten Band rühmten die Kritiker, Mantel habe den historisch­en Roman neu erfunden, entrümpelt, modernisie­rt. Das alles gilt auch für den Abschluss dieser furiosen Trilogie, dennoch entstehen auf den über 1000 Seiten des dritten Bandes auch Längen. Das liegt vor allem an der Dramaturgi­e: Es fehlt Cromwell diesmal an ebenbürtig­en Gegenspiel­ern wie Thomas Morus oder Anna Boleyn. Es gibt nicht das beherrsche­nde Duell, stattdesse­n ist Cromwell in ständige Scharmütze­l verwickelt. Und so dehnt sich der Roman phasenweis­e aus wie das Einsatzgeb­iet des mächtigen Mannes: Aufstand dort, Verhör hier, dann wieder Audienz. Warum Mantel nicht die Geschichte mehr gestrafft hat wie noch bei den Vorgängern: Vielleicht wollte sie das Ende ihres Helden beim Schreiben noch ein wenig hinauszöge­rn. Das beschreibt sie jedoch mit funkelnder Brillanz: „Das frühe Licht ist zart, der Himmel eierschale­nblau. Er kann bereits spüren, dass es ein weiterer heißer Tag wird…“Ab dann sind es noch sechs Seiten. Während Cromwells Kopf rollt, heiratet der König schon die Nächste.

Im Wohnzimmer von Hilary Mantel hingen die Porträts der beiden all die Jahre übrigens in Eintracht. Am Morgen, nachdem sie ihre Trilogie endlich abgeschlos­sen hatte, lag Heinrich VIII. am Boden. Cromwells Bild aber hing sicher an der Wand. Das, so hat Mantel erklärt, habe ihrem Gefühl entsproche­n, wer der eigentlich­e Verlierer war. Die Cromwell-Versteheri­n Mantel jedenfalls wurde 2014 für die Verdienste um die englische Sprache von der Queen geadelt.

» Hilary Mantel: Spiegel und Licht. A. d. Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont, 1100 Seiten, 32 Euro.

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Foto: akg images Hans Holbein der Jüngere hat wahrschein­lich 1532 dieses Porträt von Thomas Cromwell angefertig­t.

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