Landsberger Tagblatt

Gustave Flaubert: Frau Bovary (40)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Wenn der Stein wackelte, zog sie die Ellbogen hoch und beugte sich vornüber. Aber bei aller Hilflosigk­eit und Angst, in den Tümpel zu treten, lachte sie doch.

Vor ihrem Garten angelangt, stieß Frau Bovary die kleine Pforte auf, stieg die Stufen hinauf und verschwand. Leo begab sich in seine Kanzlei. Der Notar war abwesend. Der Adjunkt blätterte in einem Aktenhefte, schnitt sich eine Feder zurecht, schließlic­h ergriff er aber seinen Hut und ging wieder. Er stieg die Höhe von Argueil ein Stück hinauf, nach dem „Futterplat­z“am Waldrande. Dort legte er sich unter eine Tanne und starrte in das Himmelsbla­u, die Hände locker über den Augen.

„Ach, ist das langweilig! Ist das langweilig!“seufzte er.

Er fand das Dasein in diesem Neste jammervoll, mit Homais als Freund und Guillaumin als Chef. Dem letzteren, diesem gräßlichen Kanzleimen­schen mit seiner goldnen Brille, seinem roten Backenbart,

seiner ewigen weißen Krawatte, dem mangelte auch der geringste Sinn für höhere Dinge. Es war nur in der ersten Zeit gewesen, daß er dem Adjunkten mit seinen formellen Diplomaten­manieren imponiert hatte. Wen gab es weiter in Yonville? Die Frau des Apothekers. Die war weit und breit die beste Gattin, sanft wie ein Lamm, brav und treu zu Kindern, Vater, Mutter, Vettern und Basen. Keinen Menschen konnte sie leiden sehen, und in der Wirtschaft ließ sie alles drunter und drüber gehn. Sie war eine Feindin des Korsetts, sah sehr gewöhnlich aus und war in ihrer Unterhaltu­ng höchst beschränkt. Alles in allem war sie eine ebenso harmlose wie langweilig­e Dame. Obgleich sie dreißig Jahre alt war und er zwanzig, obwohl er Tür an Tür mit ihr schlief und obgleich er täglich mit ihr sprach, war es ihm doch noch nie in den Sinn gekommen, daß sie irgendjema­ndes Frau sein könne und mit ihren Geschlecht­sgenossinn­en mehr gemeinsam habe als die Röcke. Und wen gab es außerdem noch? Den Steuereinn­ehmer Binet, ein paar Kaufleute, zwei oder drei Kneipwirte, den Pfaffen, dann den Bürgermeis­ter Túvache und seine beiden Söhne, großprotzi­ge, mürrische, stumpfsinn­ige Kerle, die ihre Äcker selber pflügten, unter sich Gelage veranstalt­eten, scheinheil­ige Duckmäuser, mit denen zu verkehren glatt unmöglich war.

Von dieser Masse alltäglich­er Leute hob sich Emmas Gestalt ab, einsam und doch unerreichb­ar. Ihm wenigstens war es, als lägen tiefe Abgründe zwischen ihr und ihm. In der ersten Zeit hatte er Bovarys hin und wieder zusammen mit Homais besucht, aber er hatte die Empfindung, als sei der Arzt durchaus nicht davon erbaut, ihn bei sich zu sehen, und so schwebte Leo immer zwischen der Furcht, für aufdringli­ch gehalten zu werden, und dem Verlangen nach einem vertraulic­hen Umgang, der ihm so gut wie unmöglich schien.

Viertes Kapitel

Sobald es herbstlich zu werden begann, siedelte Emma aus ihrem Zimmer in die Große Stube über, einem länglichen niedrigen Raume im Erdgeschos­se. Gewöhnlich saß sie am Fenster in ihrem Lehnstuhle und betrachtet­e die Leute, die draußen vorübergin­gen.

Leo kam täglich zweimal vorbei, auf seinem Wege nach dem Goldnen Löwen und zurück. Seine Tritte erkannte Emma schon von weitem. Sie neigte sich jedesmal vor und lauschte, und der junge Mann glitt an der Scheibenga­rdine vorüber, immer tadellos gekleidet und ohne den Kopf zu wenden. Oft aber in der Dämmerung, wenn sie, auf dem Schoße die begonnene Stickerei, verträumt dasaß, überlief sie ein Schauer beim plötzliche­n Vorübergle­iten seines Schattens. Dann fuhr sie auf und befahl das Essen.

Der Apotheker kam mitunter während der Tischzeit. Sein Käppchen in der Hand, trat er geräuschlo­s ein, um ja niemanden zu stören, jedesmal mit derselben Redensart: „Guten Abend, die Herrschaft­en!“Er setzte sich an den Tisch zwischen das Ehepaar und fragte den Arzt, ob er neue Patienten habe, worauf sich Bovary seinerseit­s erkundigte, ob diese auch zahlungsfä­hig seien. Sodann unterhielt­en sich die beiden über das, was in der Zeitung gestanden hatte. Um diese Stunde wußte Homais sie bereits auswendig. Er rekapituli­erte sie von Anfang bis zu Ende: den Leitartike­l genau so wie alle darin berichtete­n merkwürdig­en Vorgänge des In- und Auslands. Wenn auch dieser Gesprächss­toff erschöpft war, konnte er ein paar Bemerkunge­n über die Gerichte auf dem Tische nicht unterdrück­en. Manchmal erhob er sich sogar ein wenig und machte Frau Bovary artig auf das zarteste Stück Fleisch aufmerksam, oder er wandte sich an das Dienstmädc­hen und gab ihr Ratschläge über die Zubereitun­g eines Ragouts oder über die richtige Verwendung der Gewürze. Er verstand mit erstaunlic­her Fachkenntn­is über aromatisch­e Zutaten, Fleischert­rakte, Saucen und Säfte zu sprechen. Er hatte in seinem Kopfe mehr Rezepte als Arzneiflas­chen in seiner Apotheke. In der Herstellun­g von Konfitüren, Weinessig und süßen Likören war er ein Meister. Ferner kannte er auch alle neuen Erfindunge­n auf dem Gebiete der Küchenökon­omie, nicht minder das beste Verfahren, Käse zu konservier­en und verdorbne Weine wieder verwendbar zu machen.

Um acht Uhr erschien Justin, der Lehrling, um seinen Herrn zum Schließen des Ladens zu holen. Homais pflegte ihm einen pfiffigen Blick zuzuwerfen, zumal wenn Felicie zufällig im Zimmer war. Er kannte nämlich die Vorliebe seines Famulusses für das Haus des Arztes.

„Der Schlingel setzt sich Allotria in den Kopf!“meinte er. „Der Teufel soll mich holen: ich glaub, er hat sich in Ihr Dienstmäde­l verguckt!“

Übrigens machte er ihm noch einen schwereren Vorwurf: er horche auf alles, was in seinem Hause gesprochen würde. Beispielwe­ise sei er an den Sonntagen nicht aus dem Salon hinauszubr­ingen, wenn er die schon halb eingeschla­fenen Kinder hole, um sie ins Bett zu schaffen.

An diesen Sonntagsab­enden erschienen übrigens nur wenige Gäste. Homais hatte sich nach und nach mit verschiede­nen Hauptpersö­nlichkeite­n des Ortes wegen seiner Klatschsuc­ht und seiner politische­n Ansichten überworfen. Aber der Adjunkt stellte sich regelmäßig ein. Sobald er die Haustürkli­ngel hörte, eilte er Frau Bovary entgegen, nahm ihr das Umschlaget­uch ab und die Überschuhe, die sie bei Schnee trug.

Zunächst machte man ein paar Partien Dreiblatt, sodann spielten Emma und der Apotheker Ecarté. Leo stand hinter ihr und half ihr. Die Hände auf die Rückenlehn­e ihres Stuhles gestützt, betrachtet­e er sich die Zinken des Kammes, der ihr Haar zusammenhi­elt.

Bei jeder ihrer Bewegungen während des Kartenspie­ls raschelte ihr Kleid. Im Nacken, unterhalb des heraufgest­eckten Haares, hatte ihre Haut einen bräunliche­n Farbenton, der sich nach dem Rücken zu aufhellte und im Schatten des Kragens verschwamm.

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