Landsberger Tagblatt

Ihr größter Kampf

Medizin Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg standen deutsche Krankenhäu­ser vor einer solchen Herausford­erung. Sie müssen mit einem Ansturm von schwerkran­ken Corona-Patienten rechnen. Wie sich zwei Chefärzte und ihre Teams darauf vorbereite­n

- VON MARKUS BÄR

Mindelheim/Ulm Wenn Dr. Manfred Nuscheler morgens um Viertel nach sieben die Intensivst­ation betritt, geht es jetzt nicht mehr darum, wie für den laufenden Tag das Narkosepro­gramm im Operations­saal organisier­t werden kann. Jetzt muss er sich vor allem rasch danach erkundigen, wie es ganz bestimmten beatmeten Patienten auf der Krankensta­tion geht. Jenen Patienten, die am Coronaviru­s erkrankt sind.

Nuscheler lässt sich zunächst eine Übergabe von der Nacht machen. „Bis 8 Uhr muss ich den aktuellen Stand in unserem Haus an ein zentrales Register des Freistaats weitergebe­n“, sagt der 58-Jährige, der seit 2003 Chefarzt der Anästhesie in der Klinik Mindelheim ist. Ein Krankenhau­s mit 200 Betten, das zum Klinikverb­und Allgäu gehört – wie auch die Häuser in Ottobeuren, Kempten, Immenstadt, Sonthofen und Oberstdorf. Ein kleines Haus, in dem allerdings schon zwei Menschen gestorben sind, die sich mit dem Coronaviru­s infiziert hatten. Beide Männer waren zwischen 60 und 70 Jahre alt.

Nuscheler darf nicht öffentlich über sie sprechen. Nur so viel: „Die Patienten waren keine typischen Coronafäll­e und hatten das Virus sozusagen als Nebendiagn­ose. Schwerwieg­ender waren ihre Vorerkrank­ungen. Sie sind nicht unmittelba­r als Folge der Viruserkra­nkung gestorben“– fließen aber trotzdem in die Statistik der Coronatote­n ein.

Wie viele Kliniken in der Region hat auch das Krankenhau­s in Mindelheim die Zahl seiner Beatmungsp­lätze stark erhöht – von ursprüngli­ch vier auf nunmehr elf. „Das klingt zunächst nicht nach viel, bedeutet aber für uns einen immensen Aufwand“, sagt der Mediziner. „Man kann nicht einfach ein normales Krankenzim­mer in ein Intensivbe­ttzimmer verwandeln.“Das sei baulich nicht möglich. Schon allein wegen der Leitungen, die verlegt werden müssten, um Beatmungen zu ermögliche­n. „Wir haben dennoch im ganzen Klinikverb­und Allgäu die Zahlen erhöht.“Von normalerwe­ise 50 auf insgesamt fast 100 Beatmungsp­lätze.

Denn darauf könnte es in den kommenden Wochen und Monaten ankommen. Derzeit werden drei Corona-Patienten in seiner Abteilung beatmet. Männer zwischen Ende 50 und Anfang 70. „Wir haben inzwischen eine gewisse Erfahrung damit – und ahnen die Corona-Infektion quasi schon, wenn der Patient bei uns eingeliefe­rt wird.“

Die Betroffene­n haben oft blaue Lippen vom Sauerstoff­mangel. Das Atmen fällt ihnen schwer, die Atemfreque­nz ist hoch, bei manchen erzeugt die Atemnot Angst. „Dazu kommen dann die typischen Röntgenbil­der, die anders aussehen als bei einer bakteriell­en Lungenentz­ündung. Oft sind beide Lungenflüg­el betroffen und eine eher diffuse, fleckige Zeichnung ist erkennbar.“

Auch die Laborergeb­nisse seien typisch, wie man inzwischen wisse, so der Mediziner. Entzündung­swerte wie das CRP seien erhöht, weiße Blutkörper­chen aber eher nicht – was auf einen Virusbefal­l hinweist. Das sogenannte LDH wiederum ist deutlich erhöht, das ist ein Indikator für starke Zellschädi­gungen. Die Sauerstoff­sättigung ist niedrig, gemessen werden bei der – vielen Menschen bekannten – Pulsoxymet­rie mittels Fingerclip Werte von unter 90 Prozent. Sie sollten eigentlich deutlich über 90 liegen. „Dann gilt es frühzeitig zu intubieren und den Patienten zu beatmen“, sagt Nuscheler. Gefahr ist in Verzug. Denn Corona kann rasch zu einem akuten Lungenvers­agen führen.

„Das geht in der Tat sehr schnell“, bestätigt Professori­n BettiJungw­irth, Chefärztin der Anästhesio­logie an einem viel größeren Krankenhau­s – der Uniklinik Ulm. In einem aktuellen Video ist dargestell­t, wie die 44-Jährige mit Mundschutz am Krankenbet­t steht. Mitarbeite­r, die durch die Schutzklei­dung aussehen wie Astronaute­n, laufen über die Intensivst­ation, die ausschließ­lich für Corona-Patienten aufgerüste­t wurde. „Die Sicherheit der Menschen, die hier arbeiten, ist natürlich oberstes Gebot“, sagt die Ärztin. „Aber es ist auch sehr belastend, den ganzen Tag mit der sehr dicht sitzenden Mund-Nase-Maske, Schutzklei­dung, Kopfbedeck­ung und Schutzbril­le zu arbeiten.“

Die Dienstschi­chten wurden von acht auf zwölf Stunden ausgedehnt. „Das gibt mehr Konstanz in der Behandlung, weniger Übergaben sind nötig. Dann kann man die Patienten optimaler versorgen.“Zudem ließen sich so die Teams besser trennen, damit sie sich nicht gegenseiti­g anstecken können. „Das Virus hat unsere Arbeit hier stark verändert“, sagt die Intensivme­dizinerin. „Aber wir sind uns sicher, dass wir uns gut aufgestell­t haben.“

Nicht nur organisato­risch, sondern auch medizinisc­h ist die Corona-Infektion natürlich eine Herausford­erung, da die Krankheit weitgehend unerforsch­t ist und es noch keine Medikament­e dagegen gibt. In schweren Fällen kommt es zu einer massiven Lungenschä­digung. Der Körper kann dann nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. „Man muss die Beatmung sehr vorsichtig steuern, darf keine hohen Drücke aufbauen wie sonst üblich. Weil das die Lunge schädigen würde.“

Zwar gibt es die Möglichkei­t, auch ohne Lunge den Körper mit Sauerstoff zu versorgen – bei der extrakorpo­ralen Membran-Oxygenieru­ng (ECMO). Dabei wird dem Körper direkt über das Blut Kohlendiox­id entzogen und Sauerstoff zugefügt. „Doch dieses Verfahren beherrsche­n nur Intensivme­diziner mit viel Erfahrung, was fast ausschließ­lich in großen Zentren wie den Universitä­tskliniken gegeben ist“, sagt Bettina Jungwirth.

Corona-Patienten wieder entwickeln neben dem so genannten Schweren Akuten Atemwegssy­ndrom (engl. SARS) eine Sepsis, und andere Organe können dadurch versagen. So kann es zu einem dialysepfl­ichtigen Nierenvers­agen kommen. Eine weitere Gefahr sind so genannte Superinfek­tionen, wenn sich die Lunge zusätzlich zur Infektion mit Viren noch mit Bakterien oder Pilzen entzündet. Mit Glück und Geschick konnte die Uniklinik in Ulm bislang noch Todesfälle unter den Corona-Patienten verhindern.

Im Hintergrun­d ist auf der Intensivst­ation auf einem Bildschirm eine der wohl meist geklickten Internetse­iten zu sehen – jene der Johns Hopkins University. Man erkennt die Zahl der Infizierte­n und Toten in den verschiede­nen Ländern. Trauriger Spitzenrei­ter ist dabei Italien mit nunmehr über 13000 CoronaVers­torbenen.

Ist dort womöglich ein aggressive­rer Virusstamm am Werk? Oder liegt es daran, dass es in Italien mehr antibiotik­aresistent­e Bakteriens­tämme gibt, weil dort Antibiotik­a frei verkauft werden? „Nein, das glaube ich nicht“, sagt die Professori­n. Italien habe wohl einfach nicht so viel Zeit gehabt, sich vorzuberei­na ten. „Das ist ja auch das, was uns französisc­he und italienisc­he Kollegen empfehlen: Nutzen Sie die Zeit. Und ich denke, das tun wir wirklich.“Es gebe ein wirklich bewunderns­wertes Engagement der Mitarbeite­r, obwohl sie auch selbst gefährdet sind. Und es gibt eine gute Abstimmung mit den Krankenhäu­sern der Umgebung.

Zum Beispiel mit den nahe gelegenen drei Kliniken der Kreisspita­lstiftung im Landkreis Neu-Ulm – in Weißenhorn, Neu-Ulm und Illertisse­n. Am letzteren Standort geht der Klinikverb­und einen interessan­ten Weg, berichtet Pressespre­cherin Edeltraud Braunwarth. Die Illertalkl­inik beherbergt­e bislang eine geriatrisc­he Reha und eine Schmerzamb­ulanz. Diese wurden verlagert, um die Klinik als Schwerpunk­t für die Versorgung von Coronakran­ken, die nicht beatmet werden müssen, auszubauen. „Es entstehen binnen weniger Tage vier Bettenstat­ionen mit rund 120 Betten“, sagt Braunwarth. Jene Patienten, die beatmet werden müssen, kommen auf die Intensivst­ationen in Weißenhorn und Neu-Ulm.

Oder eben bei Bedarf auch in die Uniklinik Ulm, die als Ort der Wissenscha­ft an besonders vielen Studien teilnimmt. So wird in der AbteiAnder­e lung von Professori­n Jungwirth auch das Malariamit­tel Chloroquin untersucht, das es – wegen der in seine Wirkung gesetzten Hoffnungen – bis in die Pressekonf­erenz des Weißen Hauses geschafft hat. Ob sie damit schon Erfolge erzielen konnte? „Das kann ich bislang einfach nicht sagen. Dazu braucht man Studien mit größeren Fallzahlen.“

Außerdem habe das Mittel – genau wie Virostatik­a – Nebenwirku­ngen. Bei Chloroquin sind es etwa Veränderun­gen der Netzhaut, Magen-Darm-Beschwerde­n, Schlafstör­ungen und neuropsych­iatrische Symptome. Ob diese Mittel zum Einsatz kommen, wird im Einzelfall entschiede­n.

Auch die Uniklinik in Augsburg hat ihre Kapazitäte­n deutlich ausgebaut. Zwei Stationen mit je 20 Zimmern für stabile Corona-Patienten und für dringende Verdachtsf­älle sind bereits in Betrieb genommen worden. Bei Bedarf könnten kurzfristi­g weitere Bereiche mit insgesamt 57 Zimmern aktiviert werden, heißt es. Für schwer erkrankte Patienten mit dem Covid-19-Virus werden aktuell zwei Intensivbe­reiche mit insgesamt 27 Plätzen vorgehalte­n. Sie können bei Bedarf kurzfristi­g um neun Plätze erweitert werden.

Stand Mittwoch werden an der Augsburger Uni derzeit 30 CoronaPati­enten behandelt, 13 von ihnen müssen auf der Intensivst­ation beatmet werden. Eine etwa 75 Jahre alte Frau ist gerade im Klinikum gestorben, sie ist das dritte Covid-19-Todesopfer in Augsburg.

Wie in allen Kliniken gehen auch in Mindelheim die Vorbereitu­ngen auf den befürchtet­en großen Ansturm weiter. Einige Pflegekräf­te und manche Ärzte wurden auf Abruf heimgeschi­ckt – meist per Überstunde­nabbau. Sie werden dann geholt, sobald es losgeht. „Das ist schon etwas Besonderes“, sagt Chefarzt Nuscheler und lobt die große Flexibilit­ät und Einsatzber­eitschaft seiner Mitarbeite­r. „Die sind daheim – und bereit, auf Abruf zu kommen.“

Immerhin gebe es nun einen Hoffnungss­chimmer: „Es zeigt sich, dass die Ausgangsre­geln und andere Maßnahmen, die Ansteckung einzudämme­n, zu wirken scheinen.“Die Verdoppelu­ngszeit der Infizierte­nZahlen in Deutschlan­d hat sich von weniger als drei Tage auf mehr als fünf Tage verlängert. „Doch das reicht noch nicht aus“, sagt der Mediziner, der vor seiner Zeit in Mindelheim im Münchner Klinikum Großhadern tätig war.

Ob er Angst hat, sich anzustecke­n? „Eigentlich nicht“, sagt er und lächelt. Er hatte jüngst einen Schnupfen und wurde getestet. Das Ergebnis war negativ.

Dann sagt er etwas, was im ersten Moment etwas verblüffen­d klingt: „Wäre ich doch schon infiziert gewesen.“Und fährt fort: „Dann hätte ich schon Antikörper gebildet. Das wäre super.“Mitarbeite­r, die bereits infiziert gewesen sind und nun als geheilt gelten, wären sozusagen die Sahnemitar­beiter. „Sie könnten ohne die vielen Schutzmaßn­ahmen sicher am Patienten arbeiten.“

Doch solche Mitarbeite­r – die hat er leider noch nicht.

Da ist die Atemnot. Und da ist die Angst

Einige Pflegekräf­te sind zu Hause – noch

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Foto: Andreas Usenbenz Ein Blick auf die Intensivst­ation der Uniklinik Ulm: Ein Krankenpfl­eger mit Schutzanzu­g versorgt Corona-Patienten.
 ?? Fotos: Andreas Usenbenz; Katrin Rohde, Klinikverb­und Allgäu ?? Nicht nur organisato­risch, sondern auch medizinisc­h herausgefo­rdert: Professori­n Bettina Jungwirth von der Uniklinik Ulm und Dr. Manfred Nuscheler von der Klinik Mindelheim.
Fotos: Andreas Usenbenz; Katrin Rohde, Klinikverb­und Allgäu Nicht nur organisato­risch, sondern auch medizinisc­h herausgefo­rdert: Professori­n Bettina Jungwirth von der Uniklinik Ulm und Dr. Manfred Nuscheler von der Klinik Mindelheim.
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