Gustave Flaubert: Frau Bovary (47)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Das eintönige Leben begann ihn abzustumpfen; er hatte keine Interessen, die ihn erfüllten, keine Hoffnungen, die ihn stärkten. Yonville und die Yonviller ödeten ihn dermaßen an, daß er gewisse Leute und bestimmte Häuser nicht mehr erblicken konnte, ohne in Wut zu geraten. Besonders unausstehlich wurde ihm nachgerade der biedere Apotheker. Gleichwohl schreckte ihn die Aussicht auf völlig neue Verhältnisse genau so sehr, wie er sich danach sehnte. Dieses bange Gefühl wandelte sich nach und nach in Unruhe, und nun lockte ihn Paris, das ferne Paris mit der rauschenden Musik seiner Maskenfeste und dem Lachen seiner Grisetten. Er sollte daselbst sowieso sein Studium vollenden. Warum ging er nicht endlich dahin? Was hielt ihn zurück?
In Gedanken fing er nun an, seine Vorbereitungen zu treffen. Er machte heimliche Pläne. Er träumte sich sein Pariser Zimmer aus. Dort wollte er das Leben eines Bohémien führen. Gitarre wollte er spielen lernen,
einen Schlafrock tragen, dazu ein Samtbarett und Hausschuhe aus blauem Plüsch. Und über dem Kamin sollten zwei gekreuzte Floretts hängen, ein Totenschädel darüber und die Gitarre darunter. Wundervoll!
Das Schwierige war nur, die Einwilligung seiner Mutter zu bekommen. Aber im Grunde war sein Plan doch der allervernünftigste! Sogar sein Chef redete ihm zu, sich in einer andern Kanzlei weiter auszubilden. So entschied sich Leo zunächst zu einem Mittelding. Er bewarb sich um einen Adjunktenposten in Rouen. Als ihm dies mißlang, schrieb er schließlich seiner Mutter einen langen Brief, in dem er ihr ausführlich auseinandersetzte, warum er ohne weiteres nach Paris übersiedeln wollte. Sie war damit einverstanden.
Trotz alledem beeilte er sich keineswegs. Volle vier Wochen lang gingen von Yonville nach Rouen und von Rouen nach Yonville Koffer, Rucksäcke und Pakete für ihn hin und her. Er vervollständigte seine Garderobe, ließ seine drei Lehnstühle aufpolstern, schaffte sich einen Vorrat von seidnen Halstüchern an, kurz und gut, er traf Vorbereitungen, als wolle er eine Reise um die Welt antreten. So verstrich Woche auf Woche, bis ein zweiter mütterlicher Brief seine Abreise beschleunigte. Er hätte doch die Absicht, ein Examen nach einem Semester zu machen.
Als der Augenblick des Abschieds gekommen war, da weinte Frau Homais, Justin heulte, und Homais verbarg seine Rührung, wie sich das für einen ernsten Mann schickt. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, den Mantel seines Freundes eigenhändig bis zur Gartenpforte des Notars zu tragen, wo des letzteren Kutsche wartete, die den Scheidenden nach Rouen fahren sollte.
Im letzten Viertelstündchen machte Leo seinen Abschiedsbesuch im Hause des Arztes.
Als er die Treppe hinaufgestiegen war, blieb er stehen, um Atem zu schöpfen. Bei seinem Eintritt kam ihm Frau Bovary lebhaft entgegen.
„Da bin ich noch einmal!“sagte Leo.
„Ich hab es erwartet!“Emma biß sich auf die Unterlippe. Eine Blutwelle schoß unter der Haut ihres Gesichts hin und färbte es über und über rot, vom Halskragen an bis hinauf zu den Haarwurzeln.
Sie blieb stehen und lehnte die Schulter gegen die Holztäfelung.
„Ihr Herr Gemahl ist wohl nicht zu Hause?“
„Er ist fort.“
Dann trat Schweigen ein. Sie sahen sich beide an, und ihre Gedanken, von gleichem Bangen durchwoben, schmiegten sich aneinander wie zwei klopfende Herzen.
„Ich möchte Berta gern einen Abschiedskuß geben“, sagte Leo.
Emma ging hinaus, ein paar Stufen hinunter, und rief Felicie. Leo warf schnell einen heißen Blick auf die Wände, die Möbel, den Kamin, als wollte er alles umfassen, alles mit sich nehmen. Aber da war sie auch schon wieder im Zimmer. Das Mädchen brachte die kleine Berta, die einen Hampelmann an einem Faden in der Hand hielt, verkehrt, den Kopf nach unten.
Leo küßte die Kleine ein paarmal auf die Stirn.
„Lebwohl, armes Kind! Lebwohl, liebes Bertchen! Lebwohl!“
Er gab das Kind der Mutter zurück.
„Bring sie weg!“befahl Emma. Sie waren wiederum allein. Frau Bovary wandte Leo den Rücken zu und preßte ihr Gesicht gegen eine Fensterscheibe. Er hielt seine Reisemütze in der Hand und schlug damit leise gegen seinen Schenkel.
„Es wird wohl regnen“, bemerkte Emma.
„Ich habe einen Mantel“, antwortete er.
„So!“
Sie wandte sich wieder um, das Kinn gesenkt. Das Licht glitt über ihre vorgebeugte Stirn wie über glatten Marmor bis hinab in die Augenbrauen. Man konnte nicht sehen, was in ihren Augen geschrieben stand, noch was die Gedanken dahinter sannen.
„Also adieu!“seufzte Leo.
Sie hob den Kopf mit einer jähen Bewegung.
„Ja, adieu! Sie müssen gehen!“Sie kamen aufeinander zu. Er reichte ihr die Hand hin. Sie zögerte.
“Sozusagen ein französischer Abschied!“meinte sie, indem sie ihm die Hand überließ. Dabei lächelte sie gezwungen.
Leo fühlte ihre Finger in den seinen. Es kam ihm vor, als ströme ihr ganzes Ich in seine Haut. Als er seine Hand wieder öffnete, begegneten sich beider Augen noch einmal. Dann ging er.
Als er unter den Hallen war, blieb er stehen, wobei er sich hinter einem Pfeiler verbarg. Er wollte ein letztes Mal ihr weißes Haus mit seinen vier grünen Fensterläden sehen. Da vermeinte er, ihren Schatten hinter der Gardine ihres Zimmers zu erblicken. Aber der Vorhang hatte sich wohl von selbst gebauscht und fiel nun wieder langsam in seine langen senkrechten Falten zurück, in denen er dann regungslos stehen blieb wie eine Mauer von Gips. Leo eilte von dannen. Von weitem sah er schon den Wagen seines Chefs auf der Straße halten. Ein Mann in leinenem Kittel stand daneben und hielt das Pferd. Der Apotheker und der Notar plauderten miteinander. Man wartete auf ihn.
„Lassen Sie sich noch einmal umarmen!“sagte Homais, Tränen in den Augen. „Hier ist Ihr Mantel, mein lieber Freund! Erkälten Sie sich unterwegs nicht! Schonen Sie sich recht und nehmen Sie sich ordentlich in acht!“
„Einsteigen, Herr Düpuis!“mahnte der Notar.
Der Apotheker beugte sich über das Spritzleder und stammelte mit tränenerstickter Stimme nichts als die beiden wehmütigen Worte: „Glückliche Reise!“„Guten Abend, Herr Apotheker!“rief Guillaumin. „Los!“
Die beiden fuhren weg, und Homais wandte sich heimwärts.
Frau Bovary hatte das nach dem Garten gehende Fenster ihres Zimmers geöffnet und betrachtete die Wolken. In der Richtung nach Rouen, nach Westen zu, standen sie zusammengeballt.