Auf der falschen Seite
Eine Amerikanerin überfährt den Sohn britischer Eltern mit ihrem Geländewagen. Sie gibt den Unfall zu. Doch die Frau ist Diplomatengattin. Bleibt der Tod des 19-Jährigen ungesühnt?
Alles, was Charlotte Charles und Tim Dunn wollen, ist Gerechtigkeit. Seit August letzten Jahres kämpfen sie darum. Seit dem Tod ihres 19-jährigen Sohnes Harry Dunn verfolgen sie kein anderes Ziel.
Der Jugendliche war in der englischen Grafschaft Northamptonshire auf seinem Motorrad mit dem Geländewagen der US-Amerikanerin Anne Sacoolas zusammengeprallt, die auf der falschen Straßenseite unterwegs gewesen war. Im Königreich herrscht Linksverkehr, das führt regelmäßig zu Verwirrung bei Ausländern. Doch nur selten stirbt ein Teenager an den Folgen. Und vermutlich nie zuvor führte ein solcher Unfall mit Todesfolge zu diplomatischen Spannungen zwischen den engen Verbündeten Großbritannien und den USA.
Dieser Fall aber stellt sich vor allem für Harry Dunns Eltern auf besondere Weise tragisch dar. Denn der Ehemann von Anne Sacoolas arbeitete zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes für einen US-Geheimdienst auf einer Militärbasis der britischen Luftwaffe, der 42-Jährigen wurde deshalb diplomatische Immunität gewährt. Tatsächlich kehrte Sacoolas kurz nach dem Unfall in die Heimat zurück, bevor sie von der Polizei vernommen werden konnte. Und dort gedenkt die USBürgerin auch zu bleiben – gegen den Willen von Charlotte Charles und Tim Dunn, die mittlerweile wohl auch aus Verzweiflung so ziemlich jeden verklagt haben, der ihrer Ansicht nach in der Causa versagt hat. Dazu gehört nicht nur die sich einem möglichen Prozess entziehende Sacoolas, die zugegeben
am Steuer des Unfallwagens gesessen zu haben, sondern auch die US-Administration und das britische Außenministerium, von dem sich die trauernden Eltern mehr Hilfe versprochen hatten. Die Kosten versucht das Paar mit einer Sammelaktion im Internet aufzubringen. Tatsächlich haben die beiden sowohl die britische Öffentlichkeit und die aufgebrachten Medien als auch die Justiz und den Großteil der Politik auf ihrer Seite. Im Königreich ist die „Geflüchtete“Sacoolas, wie einige Zeitungen sie nennen, wegen fahrlässiger Tötung infolge gefährlichen Fahrens angeklagt.
Aber eine von Großbritannien beantragte Auslieferung der vermeintlichen Unfallverursacherin lehnen die USA ab. Washington verweist stattdessen auf die diplomatische Immunität der Frau.
Selbst ein Treffen von Charlotte Charles und Tim Dunn mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus im Herbst letzten Jahres brachte keine Einigung. Der USPräsident habe sein Mitgefühl über den „fürchterlichen Unfall“geäußert und darauf hingewiesen, dass US-Bürger häufig Probleme mit dem Linksverkehr hätten. Im Anschluss wollte er ohne Vorankündihat, gung eine spontane Begegnung mit Sacoolas, die sich mitsamt Fotografen in einem Nebenraum befand, ermöglichen. Ein PR-Stunt von Trump, schimpften die Eltern des toten Teenagers und verließen frustriert das Oval Office, ohne dass sie ihrem Ziel nähergerückt waren.
Im Januar dann verweigerte USAußenminister Mike Pompeo den Auslieferungsantrag. Man würde sonst einen „außergewöhnlich beunruhigenden Präzedenzfall“schaffen, hieß es im Hinblick auf den diplomatischen Sonderstatus. Daraufhin sprach das britische Innenministerium von einer „Rechtsverweigerung“. „Die ganze Welt ist auf der Seite von Team Harry“, sagten die Eltern.
Premierminister Boris Johnson betonte laut Downing Street in einem Telefonat mit Trump die „Notwendigkeit, Harrys Familie Gerechtigkeit zukommen zu lassen“. Doch eine Sprecherin der USBehörde gab bekannt, Pompeos Entscheidung sei „endgültig“, obwohl die internationale Polizeibehörde Interpol veranlasste, dass die Frau international gesucht wird. Beamte in aller Welt sind demnach aufgefordert, Sacoolas „mit Blick auf eine Auslieferung nach Großbritannien“festzunehmen.
„Harrys Eltern haben alles getan, was in ihrer Macht steht – es ist nun an den Behörden“, sagte der USAnwalt von Charlotte Charles und Tim Dunn. Ob es nun sechs Monate, ein Jahr oder sogar fünf Jahre dauern werde, bis Anne Sacoolas vor einem britischen Gericht zur Rechenschaft gezogen wird – und die Eltern damit Gerechtigkeit für ihren verstorbenen Sohn erkämpft haben. „Sie werden niemals loslassen.“