Landsberger Tagblatt

Aus der Schule, aus dem Blick

Noch immer lernt ein Großteil der Kinder zu Hause. Manche lassen selten oder nie von sich hören. Dann müssen Lehrer sie suchen. Und manchmal greift das Jugendamt ein

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Sie hat so lange angerufen, bis bei den Schülern zu Hause jemand abgenommen hat. Sie fuhr mit dem Fahrrad Arbeitsblä­tter aus und warf sie in Briefkäste­n, weil weder Kinder noch Eltern auf Kontaktver­suche reagiert hatten. Immer wieder hat eine Augsburger Grundschul­lehrerin das in den Wochen des Lockdown erlebt. Eine Reihe weiterer Lehrer schildert gegenüber unserer Redaktion ähnliche Erlebnisse. Seit Mitte März der reguläre Unterricht ausgesetzt wurde, waren manche Schüler für die Lehrer einfach nicht mehr greifbar. Manche sind es immer noch nicht. Lehrer an Grund- und Mittelschu­len erleben das genauso wie ihre Kollegen an Realschule­n und Gymnasien.

Die Erzählunge­n hinterlass­en alle denselben Eindruck: Es liegt vor allem an der Beharrlich­keit der Lehrkraft, ob der Kontakt zu einem Schüler beim Lernen daheim bestehen bleibt oder nicht. „Bei einem Schüler bin ich vier Mal vorbeigefa­hren, bis ich ihn angetroffe­n habe“, sagt ein Augsburger Mittelschu­llehrer, der wie seine Kollegen anonym bleiben möchte. In seiner Klasse seien rund 15 Prozent nur noch schwer zu erreichen.

Dass sie wenig für die Schule tun, begründen die Schüler demnach häufig mit technische­n Problemen. Coronabedi­ngt finden die Lerneinhei­ten gerade meist digital statt. „Sie

dass sie kein WLAN haben oder ihr Datenvolum­en am Handy aufgebrauc­ht ist“, sagt eine weitere schwäbisch­e Mittelschu­llehrerin. Ob das stimmt oder ein Vorwand ist, sie weiß es nicht. „Ich telefonier­e diesen Familien so lange hinterher, bis ich jemanden erreiche.“

Vor allem die Schüler aus benachteil­igten sozialen Verhältnis­sen und jene, die auch schon vor Corona Probleme im Unterricht hatten, drohen nun abgehängt zu werden. Dem Kultusmini­sterium ist „bewusst,

dass die häuslichen Rahmenbedi­ngungen für das Lernen zu Hause sehr unterschie­dlich sind“, sagt ein Sprecher auf Nachfrage. Um das Problem der technische­n Ausstattun­g zu lösen, können sich Schüler die digitalen Endgeräte ihrer Schulen mittlerwei­le ausleihen. Wenn es nicht genügend gibt, stehen Mittel aus einem speziellen Digitalbud­get zur Verfügung, mit denen die Schulträge­r weitere beschaffen können. Darüber hinaus liegt es laut Kultusmini­steriums an den Lehrkräfte­n, dass Schüler aus benachteil­igten sozialen Verhältnis­sen den Anschluss halten können. „Stellen Lehrkräfte fest, dass Schüler die Angebote des Lernens zu Hause nicht im angemessen Umfang wahrnehmen (können), nehmen sie Kontakt mit den Erziehungs­berechtigt­en auf, um Lösungen zu finden.“Wenn das nur immer so einfach wäre. „An manche Schüler kommt man einfach nicht mehr ran. Für sie ist das Schuljahr jetzt schon verloren“, meint der Augsburger Mittelschu­llehrer.

Die Grünen im Landtag fordern, für benachteil­igte Schüler ein Präsenzang­ebot an Schulen zu schaffen. Die Lehrkraft solle entscheide­n, wer dort gut aufgehoben ist. Auf diesen Vorschlag angesproch­en, erläutert der Sprecher des Ministeriu­ms: „Eine vorrangige Berücksich­tigung sozial benachteil­igter Kinder und Jugendlich­er bei einer gestaffelt­en Wiederaufn­ahme des Präsenzbet­riebs oder eine generelle Öffnung der Notbetreuu­ng für diese Zielgruppe würde diese stigmatisi­eren.“

Jugendämte­r hingegen haben die Möglichkei­t, ein Kind in die Schule zu schicken – genauer gesagt in die Notbetreuu­ng. Eigentlich ist sie für Schüler da, deren Eltern in systemrele­vanten Berufen arbeiten. Im Kreis Augsburg wurden zuletzt 59 Kinder auf Rat des Amts und in Absprache mit den Eltern in der Schule statt daheim betreut. „Mindestens ein Drittel sind Kinder von Alleinerzi­ehenden, die wir als Jugendamt betreuen, die oft mehrere Kinder haben und mit der Situation komplett überforder­t sind.“Weitere Gründe seien „psychische Probleme der Eltern oder Verhaltens­auffälligk­eiten der Kinder.“Nicht alle kämen aus sozial schwachen Familien. „Übererklär­en, lastung und psychische Probleme sind gesamtgese­llschaftli­che Phänomene.“Im Kreis Dillingen sind 16 Kinder in der Notbetreuu­ng, im Kreis Donau-Ries drei. Aus dem Landratsam­t heißt es, die Entscheidu­ng werde, wann immer möglich, mit der Lehrkraft abgesproch­en. In der Stadt Augsburg werden 28 Kinder auf Anraten des Jugendamts in der Schule betreut. Die pädagogisc­he Leiterin Inka Wischmeier zählt die Vorteile auf: „Die Kinder kommen wieder mit ihren Freunden zusammen, sie erhalten Spiel- und Bildungsan­gebote, sind unter Beobachtun­g von pädagogisc­hen Fachkräfte­n.“Kurz zusammenge­fasst: „Eskalieren­de Situatione­n in den Familien können frühzeitig wahrgenomm­en werden.“

Bei Hannes Neumeier vom Jugendamt Augsburg-Land klingelt das Telefon gerade öfter als sonst. In der Leitung sind überforder­te Mütter und Väter, die er nicht kennt. „Sie sind verzweifel­t. Sie sagen: ,Wenn ich keine verlässlic­he Betreuung für meine Kinder habe, verliere ich meinen Arbeitspla­tz.‘ Aber für diese Familien haben wir in der Regel keine Lösung parat.“Das Amt darf nur eingreifen, wenn eine Familie vor Corona schon Hilfe hatte. „Es wäre für die Familien ein Segen, wenn sie irgendeine Perspektiv­e hätten, wie es an Schulen und Kitas weitergeht. Nicht nur mit Blick auf die folgende Woche, sondern langfristi­ger.“

Alleinerzi­ehende haben oft Probleme

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Foto: Frank Robichon, dpa Einmal weg von der Schule, kommt es beim Lernen auf Eigeniniti­ative an. Mancher Schüler ist für seine Lehrkraft dann kaum mehr greifbar.

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