„Diese Hymne braucht die Leute“
Der Engländer Tony Britten schrieb die Titelmusik der Champions League. Ein Höhepunkt war für ihn das Finale 2001. Ein Gespräch über Stefan Effenbergs Angst, sperrige Superlative und den Neustart der Königsklasse
Herr Britten, in welcher Erinnerung haben Sie den 23. Mai 2001? Britten: Puh, das ist lange her. Wo war ich da?
In Mailand, Stadion San Siro, Champions-League-Finale zwischen dem FC Bayern und dem FC Valencia. Sie leiteten den Chor, der Ihre Hymne vor 80 000 Menschen live sang. Britten: Ah, ja! Nicht viel fehlte, und es wäre ein Debakel geworden.
Warum?
Britten: Es war unvorstellbar laut in diesem steilen, vollen Stadion. Vor allem die Bayern-Fans hatten eine gute Zeit und machten einen Wahnsinnslärm. Das Orchester lief vom Band, der Chor war live. Als das Orchester dann aber gespielt wurde, hörte ich – nichts. Wir verpassten den Einsatz und übersprangen einen Teil der Hymne. Gemerkt hat es fast niemand. Mein Gott, das war ein Moment – furchteinflößend, wild, wunderbar.
Abgesehen vom Lärm hinterließ vor allem ein Bayern-Spieler Eindruck. Britten: Ja, inzwischen weiß ich auch seinen Namen: Stefan Effenberg. Er stand direkt neben mir, kreidebleich und verängstigt. Vor ein paar Jahren gab ich ein Interview in Deutschland, Stefan war dort als Experte. Ich erzählte also die Geschichte, wie Stefan da so bemitleidenswert neben mir stand. Das brachte ihn – wir waren live auf Sendung – fast aus der Fassung. Stefan war doch dafür bekannt, ein harter Typ zu sein, oder?
Das kann man so sagen.
Britten: Er wollte wohl nicht als Weichei dastehen. Nach der Sendung war er aber ziemlich lieb und sagte, die Hymne habe ihm jedes Mal die Nackenhaare aufgestellt.
Bis heute geht es vielen Spielern wie Stefan Effenberg damals. Welche Wirkung entfaltet die Hymne für die Akteure auf dem Platz?
Britten: Gareth Bale hat einmal gesagt, er sei einst zu Real Madrid gewechselt, um diese Hymne regelmäßig auf dem Platz zu hören. Von Cristiano Ronaldo gibt es Videos, wie er auf dem Platz „The Chaaampiooons“mitsingt. Für Zinedine Zidane ist die Hymne „magisch“, auch Guardiola hat sich in der Richtung geäußert. Ich glaube also schon, dass sie die Leute auf dem Platz positiv beeinflusst und in die richtige Stimmung bringt.
1991 trat die Uefa mit dem Auftrag an Sie heran. War Ihnen damals bewusst, welche Tragweite Ihre Arbeit haben würde?
Britten: Überhaupt nicht. Es klingt arrogant, aber zunächst war das nur ein Auftrag wie viele andere für mich. Ich war damals sehr beschäftigt und schrieb viel andere Musik, Werbe-Jingles zum Beispiel. Nun war also eine Hymne für einen neuen Fußball-Wettbewerb dran.
Die Champions League ersetzte ab der Saison 1992/1993 den Europapokal der Landesmeister. Welche Vorgaben hatte die Uefa?
Britten: Dafür ist es wichtig, den Kontext zu kennen. Anfang der 90er Jahre hatte der europäische Fußball viele Probleme mit Gewalt, erinnern Sie sich an all die Zwischenfälle mit Hooligans. Es ging darum, das „schöne Spiel“wieder schön zu machen. Die Uefa wollte aus diesem neuen Wettbewerb etwas Besonderes machen.
Wie setzt man so etwas musikalisch um?
Britten: Etwas „Klassisches“sollte es werden. Sie müssen wissen, die drei Tenöre waren damals sehr beliebt. Und ein Chor sollte dabei sein. Das war’s. Ich schickte der Uefa also ein paar Ausschnitte mit Chormusik, daraus suchten sie dann „Zadok the Priest“von Georg Friedrich Händel aus. So begann alles.
Vor allem der Anfang erinnert stark an Händels Werk, das auch Teil jeder englischen Krönungszeremonie ist. Bis heute halten sich Vorwürfe, Ihre Hymne sei eine Kopie.
Britten: Ja, diese bösen Zungen gibt es. Der Anfang mit den steigenden Streichern und die hohen Trompeten orientieren sich an Händel, mehr aber nicht. Händel gab mir einen Bezug, eine Richtung, eine Farbe. Der Rest ist mein Werk.
Wie lange dauerte es, bis die Hymne fertig war?
Britten: Die Musik war nach ein paar Wochen fertig. Ich gab das dann an die Uefa weiter, doch zu meiner Überraschung wollten sie auch noch einen Text dazu, und das in den offiziellen Uefa-Sprachen: Englisch, Französisch und Deutsch. Also machte ich mich ans Werk.
Mit Verlaub: Der Text ist stellenweise etwas sperrig geraten. Im deutschsprachigen Teil heißt es etwa: „Eine große sportliche Veranstaltung“oder „Sie sind die allerbesten Mannschaften“. Britten: Von einer deutschen Zeitung hatte ich diese Frage erwartet. Also: Nur die Besten der Besten sollten in der Champions League antreten. Deshalb schrieb ich auf Englisch eine Liste mit Superlativen: „Die Tollsten“, „Die Großartigsten“, „Die Meister“. Diese Liste ließ ich einen Sprachwissenschaftler wortwörtlich übersetzen, dann fügte ich die verschiedenen Wörter und Phrasen zusammen. Ganz ehrlich: Wenn ich gewusst hätte, dass daraus eine der bedeutendsten Sport-Hymnen aller Zeiten wird, hätte ich mich ein paar Minuten länger mit dem Text beschäftigt. Goethe würde sich im Grab umdrehen.
Was macht Ihre Hymne einzigartig? Britten: Schwer zu sagen. Am ehesten noch ihre Zeitlosigkeit. Wir haben über die Jahre viele andere Versionen der Hymne ausprobiert: Funk, Rock, Disco. Das hat Spaß gemacht, aber niemand konnte etwas damit anfangen. Alle wollten nur das Original. Denn mit ihm schwingt auch die Emotion dieses Wettbewerbs mit. Es geht um das Gefühl Champions League. Und das wird nicht langweilig.
Im Herbst fanden dann die ersten Champions-League-Spiele statt. Wie waren die Reaktionen auf Ihre Hymne?
Britten:
Ich weiß nur noch, dass die
Uefa damit zufrieden war. Das hat mir gereicht. Erst nach zwei, drei Jahren wurde mir bewusst: Moment, das ist inzwischen eine ziemlich große Nummer. Niemand ahnte, dass daraus so ein Monster wird.
Nach der Corona-Pause beginnt die Champions League nun wieder: Am Freitag und Samstag finden die Achtelfinal-Rückspiele statt, bevor es in der Endrunde vom 12. bis zum 23. August in Lissabon um den Titel geht. Bei allen Spielen fehlt das Publikum. Gewinnt die Hymne als letztes atmosphärisches Überbleibsel umso mehr an Bedeutung?
Britten: Die Hymne wird sicher noch mehr in der Vordergrund rücken. Für die Spieler wird es hart, diese Motivation zu finden, die das Ambiente normalerweise automatisch mitliefert. Ich hoffe, die Musik wird sie daran erinnern, dass es um etwas Großes geht.
Was wird trotz Hymne fehlen? Britten: Manchmal machen wir Soundchecks in Stadien und spielen die Hymne in voller Lautstärke. Diese Musik in einem leeren Stadion ist komisch, irgendwie unnatürlich. Diese Hymne braucht die Leute. So wie mir Effenberg damals auch sagte: „Du hörst die Hymne und weißt: Jetzt geht’s los!“
Interview: Max Kramer