Woran es in der Pflege noch immer krankt
Pandemie Die Corona-Krise brachte Kranken- und Altenpfleger oftmals an ihre Grenzen. Anfangs erhielten sie Beifall, später Sonderzahlungen. Doch bereits im April erzählten sie von ihren Nöten. Wie sie die vergangenen Monate erlebten und wie es ihnen heute
Ingolstadt/Neuburg Wenn Elisabeth Klein im März zur Arbeit fuhr – die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, die Straßen wie leer gefegt wegen des Corona-Lockdowns – rechnete sie bereits mit der nächsten Schreckensnachricht. Welches Bett muss heute geräumt werden? Wer hat die Augen geschlossen, ohne sein Kind ein letztes Mal gesehen zu haben? „Du kommst rein und als Erstes hörst du: Den hat es erwischt“, erzählt sie. Atempause. „Es ist traurig.“Dann überschlägt sich ihre Stimme: „Solch eine Zeit kann man nicht vergessen.“Elisabeth Klein, Leiterin eines Altenheims der Banater Schwaben in Ingolstadt, wird lange brauchen, um diesen Frühling zu verkraften.
Fünf Monate ist es nun her, dass ihre Einrichtung fast ein Drittel der Bewohner wegen des Coronavirus verlor, 15 von 40 Menschen; dass sechs Kilometer entfernt, im Klinikum Ingolstadt, Intensivkrankenschwester Sarah Karrer – ihr richtiger Name tut hier nichts zur Sache – Patienten auf den Bauch drehen musste, um die letzten Areale ihrer verschleimten Lungen zu aktivieren; dass Karin Bayerl, Chefin eines Pflegedienstes in Neuburg an der Donau, sagte: „Wenn man krank ist, braucht man wen. Wenn man nicht krank ist, vergisst man. Ich denke, es wird schnell wieder vergessen.“
Es war kurz vor Ostern, Fest der Auferstehung Jesu. Deutschland aber fühlte sich an wie am Rande des Untergangs. Die neuartige Lungenkrankheit Covid-19 hatte einen ersten Höhepunkt erreicht. Menschen wie Klein, wie Karrer, wie Bayerl wurden plötzlich gefeiert. Mitbürger klatschten auf Balkonen für sie, malten Plakate. Politiker spendeten warme Worte. Es flossen Sonderzahlungen für die „Corona-Helden“. Doch wer den Puls des Gesundheitssystems fühlte, musste massive Herzrhythmusstörungen diagnostizieren. Die „Systemrelevanten“, mit denen unsere Redaktion Anfang April sprach, verspürten Erschöpfung, Not, Verbitterung. Was ist aus ihnen geworden? Was brachte der Beifall? Wie geht es dem „Pflegefall Pflege“?
Ein italienisches Café in der Ingolstädter Altstadt. In wenigen Stunden muss Intensivkrankenschwester Karrer auf Station, es ist ihr achter Arbeitstag in Folge. Sie ist wieder für Patienten zuständig, die einen Auto- oder Motorradunfall hatten, pflegt Menschen nach HerzOperationen. Keine röchelnden, irgendwann komatösen Corona-Patienten mehr.
Damals im April hatte man sich im Klinikum auf den Ernstfall vorbereitet, zwei zusätzliche Stationen vorsorglich mit Beatmungsgeräten bestückt. Schwestern aus anderen Stationen meldeten sich freiwillig, um auszuhelfen, Firmen schickten kistenweise Süßigkeiten und Getränke – als Dank für die Arbeit des Klinikpersonals. „Überforderung und Angst!“Das sind die Worte, mit denen Karrer diese Zeit beschreibt. „Alles war so unerforscht. Man hat Dinge getan, von denen keiner wusste, ob sie was bringen. Du funktionierst einfach.“Es hat etwas gebracht. Sie erinnert sich an einen 50-jährigen Patienten. Wie ein Aussätziger habe er sich gefühlt. Kurz darauf: Bauchlage, Koma. Mittlerweile, erzählt Karrer, sei er auf Reha, müsse das Gehen fast neu lernen. Die Beinmuskeln waren weg. Aber: Er lebt. Die Zeit, in der sie nach der Schicht weinend im Bett saß, ist vorbei. Drei Corona-Patienten zählt sie aktuell im Klinikum, alle lediglich auf der Infektionsstation zur Überwachung.
Seit dem Frühsommer entspannt sich die Lage in Deutschlands Krankenhäusern. Das Virus macht jetzt Schlagzeilen, weil es an Mittelmeerstränden oder auf Partys übertragen wird, oft von jungen Leuten.
Nicht weit vom Ingolstädter Klinikum, im wohlhabenden Westviertel, begrüßt einen Rupert Ebner mit den Worten: „Sie sind hier in der Kommandozentrale eines ehemaligen berufsmäßigen Stadtrats.“Die Kommandozentrale, das ist ein offenes Wohnzimmer mit Holzdielen, bodentiefen Fenstern und einer Büro-Ecke – und das mit dem „ehemalig“ist eine andere Geschichte. Kurzversion: Ebner fiel Umstrukturierungsmaßnahmen des neuen Ingolstädter Oberbürgermeisters zum Opfer. Im April war er noch Umweltreferent, oberster Corona-Manager der Stadt. Seit Anfang September ist er wieder Großtierarzt.
Und doch fällt Ebners erster Blick des Tages auf seinen Computer, auf die Seite des Robert-Koch-Instituts, auf die neuen Corona-Zahlen. Ende August stand da ganz oben Ingolstadt. Über 40 Neuinfektionen pro 100000 Einwohner in einer Woche, die meisten: Reiserückkehrer vom Balkan.
Ebner ist nach wie vor im Referentenmodus. Zu lange hat er sich mit dem Virus beschäftigt. Mit den Sorgen von Altenheimleiterin Elisabeth Klein, der anschließenden Massentestung aller lokalen Pflegeheime, dem Maskenmangel. „Man konnte damals den Charakter der Menschen erkennen. Die Pflegekräfte hätten auch davonlaufen können bei dieser Dramatik“, sagt er. Und stellt die Gretchen-Frage: „Welchen Grund gibt es, dass Menschen, die härtere Schichten fahren als bei Audi, die eine super Ausbildung brauchen und hohe Verantwortung haben, weniger verdienen als ein Bandarbeiter?“
Wenn das politische Berlin an die Grenzen der Marktwirtschaft stößt, ruft es gerne eine Kommission ins Leben. Es gibt die Kohlekommission zur Umstrukturierung von Braunkohleregionen. Die Zukunftskommission für Tierwohl und nachhaltige Landwirtschaft. Und eine Pflegekommission, die im Januar einen neuen Pflegemindestlohn auf den Weg brachte. 15,40 Euro für Fachkräfte, schrittweise, bis 2022. Das ist weit entfernt von den 4000 Euro Einstiegsgehalt, für die sich inzwischen fast eine halbe Million
Menschen in einer Online-Petition einsetzt. Die Gewerkschaft Verdi verhandelt derzeit über einen Tarifvertrag in der Altenpflege sowie über Lohnerhöhungen im Öffentlichen Dienst, von denen Mitarbeiter der kommunalen Krankenhäuser profitieren würden.
An dem orientiert sich auch Karin Bayerl, die Chefin eines ambulanten Pflegedienstes in Neuburg an der Donau. 3500 Euro brutto verdient eine examinierte Vollzeitkraft bei ihr. Damit ist Bayerl lohnmäßig vorne dabei. Aber Geld, das lässt sich an ihrer verbitterten Stimme ablesen, ist nicht alles. Ihr fehlt es an Anerkennung, vor allem für Pflegedienste. Nach dem Corona-Hoch im Frühling schwenkte das Scheinwerferlicht schnell wieder um – auf Fußballstadien und Fleischfabriken. „Und selbst damals hörte man nur von Heimen und Krankenhäusern. Wenn ich es buchhalterisch formulieren müsste, laufen wir in der öffentlichen Meinung unter ‚sonstige Leistungen‘“, sagt sie.
Die Besucherliste, die es jetzt in ihrer Zentrale in Neuburg gibt, haben ihre Angestellten auch bei den Patienten ausgelegt – auf freiwilliger Basis. „Manche führen’s, manche nicht“, erzählt Bayerl. Die Angst, sich anzustecken, ist groß. Etwa elf Prozent aller Corona-Infizierten arbeiten im Gesundheitsbereich, teilte das Robert-Koch-Institut im Mai mit. Nach dem Klatschen folgte die
Klatsche: „Die Urlauber – die Wahnsinnigen, die sich Haut an Haut gerieben haben – die haben auch Eltern oder Großeltern zu Hause. Die und die Pflegedienste kriegen das ab“, schimpft Bayerl. Masken für ihre Angestellten, die habe sie genug – „aber keine Handschuhe mehr.“Das bestätigt auch Elisabeth Klein von den Banater Schwaben. Um mehr als das Doppelte seien die Preise für Einmalhandschuhe inzwischen gestiegen.
Und dann ist da ja noch die Sache mit den Bonuszahlungen, die Bayerl noch immer „Schweigegeld“nennt. Einmalig 500 Euro gab es vom Freistaat für Vollzeit-Pflegekräfte. Der Bund legte nochmals bis zu 1000 Euro drauf. Rund 111 Millionen Euro zahlte die Bayerische Staatsregierung bereits aus, sagt eine Sprecherin des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege auf Anfrage.
Karin Bayerl berichtet von bürokratischen Hürden und mehrmals zurückgeschickten Anträgen. Elisabeth Klein findet: „Unsere Reinigungskräfte mussten auch in dieser Astronautenkleidung rumlaufen, haben geschwitzt, die Leute getröstet. Dass die keinen Bonus erhalten, ist ungerecht.“Die entsprechende bayerische Richtlinie legt berechtigte Berufsgruppen fest – Reinigungskräfte gehören nicht dazu. Anders ist es bei den Zuschüssen, die der Bund oder etwa Nordrhein-Westfalen gewährt.
„Bei uns hat das jeder bekommen“, sagt Ferdi Cebi, achter Diensttag hintereinander. Seit Jahren setzt sich der Paderborner Altenpfleger für bessere Arbeitsbedingungen ein. Er hat Bundeskanzlerin Angela Merkel 2017 in einer ZDFSendung öffentlich zur Rede gestellt, über Altenheime gerappt. Und festgestellt: Politisch sei in den vergangenen Jahren gar nicht so wenig passiert. Die Löhne in der Ausbildung etwa stiegen. Aber gesellschaftlich habe sich nicht viel verändert. „Wir Pfleger müssten uns mehr zusammentun“, findet er.
Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung sind nur maximal neun bis zwölf Prozent der Pflegekräfte gewerkschaftlich engagiert. „Das ist die am schlechtesten organisierte Berufsgruppe in Deutschland“, sagt Claus Fussek. Der Sozialpädagoge gilt bundesweit als Pflegekritiker Nummer eins. Seit mehr als 30 Jahren schreiben ihm Angehörige und Pflegekräfte. 50000 Anrufe, Mails und Briefe insgesamt. Er hat über den Pflegenotstand schon vor den Vereinten Nationen und von Will bis Plasberg in fast allen deutschen Talkshows berichtet: gefälschte Pflegedokumentation, horrende Hygiene, „gefängnisähnliche Besuchsumstände“, ein „Klima der Angst und des Schweigens“. Während Corona seien die Probleme noch sichtbarer geworden. Fussek sagt: „Pflege muss die Schicksalsfrage der Gesellschaft werden.“
Aber was ist dieser Gesellschaft Pflege wert? 2030 werden Schätzungen zufolge zwischen 350000 und 500000 Pflegekräfte fehlen. Wenn Karin Bayerl von der Pflegekasse mehr Geld für ihre Leistungen und Verdi mehr Lohn für Menschen wie Elisabeth Klein oder Sarah Karrer will, werden Versicherungsbeiträge und Heimplätze teurer werden müssen. Mittelfristig brauche es dann eine Pflegebürgerversicherung, in
Geld ist nicht alles, sagt die Chefin eines Pflegedienstes
Verdi verhandelt gerade über einen Tarifvertrag
die alle einzahlen, sagt Grit Genster, Bereichsleiterin Gesundheitspolitik bei Verdi. Diese könne die Übernahme aller Pflegekosten garantieren. Bereits an diesem Mittwoch verhandelt die Gewerkschaft über einen Tarifvertrag in der Altenpflege. Er soll – mit Unterschrift von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) – allgemein verbindlich werden. „Die Lücke zur Krankenpflege ist immer noch beträchtlich, im Durchschnitt sind das 500 Euro weniger“, sagt Genster. Am Freitag dann trifft sich Verdi mit dem Bund. Aus den Tarifverhandlungen für den Öffentlichen Dienst hat sich ein gesonderter Verhandlungstisch für Gesundheit und Pflege herausgeschält.
Bei den Banater Schwaben in Ingolstadt gab es keine neuen CoronaFälle mehr, seitdem die Quarantäne in der Einrichtung Ende Mai aufgehoben wurde. Die Plätze der Verstorbenen sind bis auf einen neu belegt. Doch die Einsamkeit bleibt. Besucher können nachmittags maximal für eine halbe Stunde kommen. Den Heimbewohnern fehlen Umarmungen oder die Montagstreffen, zu denen immer auch Senioren von außerhalb dazustießen. Und die Grippesaison steht ja erst noch bevor. „Ich habe Angst vor dem Herbst“, sagt Elisabeth Klein. „Hoffentlich bleiben wir verschont.“