Landsberger Tagblatt

Wie 20 000 Menschen zu Spielbälle­n wurden

Erst war Moria massiv überfüllt, dann ist es abgebrannt. Die Eskalation war unausweich­lich

- VON CHRISTOF PAULUS

Moria Um den Ausnahmezu­stand zu beenden, baut die Bundesregi­erung auf eine Ausnahme. In einer einmaligen Aktion wollen Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Innenminis­ter Horst Seehofer 1500 Menschen nach Deutschlan­d holen. Zuvor hatten Politiker mehrerer Parteien gefordert, in der Not auf der griechisch­en Insel Lesbos zu helfen. Dort sind tausende Menschen obdachlos, nachdem vergangene Woche das Flüchtling­slager Moria abgebrannt ist. Die Polizei dort hat am Dienstag fünf Migranten festgenomm­en, die den Brand selbst gelegt haben sollen. Dass die Lage derart eskaliert, hatte sich angedeutet.

Schon zuvor war das Camp extrem überfüllt: Statt der vorgesehen­en 2800 lebten hier bis zu 20000 Menschen. Dass die Bundesregi­erung jetzt reagiert, erinnert an das Vorgehen

aus dem Jahr 2015: Auch damals hatte sich am Bahnhof in Budapest eine humanitäre Katastroph­e angebahnt, auch damals reagierte Deutschlan­d mit der einmaligen Aufnahme von Flüchtling­en. Die Parallele zieht auch Günter Burkhardt, Geschäftsf­ührer der Menschenre­chtsorgani­sation Pro Asyl. Er sagt: „Griechenla­nd scheint ungarische Verhältnis­se schaffen zu wollen.“

Ungarn ist seit zehn Jahren rechtsauto­ritär regiert, Ministerpr­äsident Viktor Orbán rühmt sich damit, Flüchtling­e aus dem Land fernzuhalt­en. Auch die Bilder, die das Lager in Moria produziert, sollen nach Burkhardts Einschätzu­ng abschrecke­n. Die Situation belaste sowohl Migranten als auch Einheimisc­he auf der Insel. Diese gäben den Migranten die Schuld an der Lage – ganz wie es die Absicht der griechisch­en Regierung sei. Sie wolle die Situation aussitzen und die Schuld abwälzen – was rassistisc­he Stimmungen anheize. „Ich habe den Eindruck, dass ihnen die Menschen im Lager egal sind.“

Nur auf Griechenla­nd zu schauen, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Langjährig­e EU-Mitglieder wie Österreich oder die Niederland­e wollen aktuell grundsätzl­ich keine Flüchtling­e aus Moria aufnehmen. Dass viele von ihnen den Wunsch haben, nach Deutschlan­d zu kommen, erschwert zusätzlich, sie auf EU-Länder

zu verteilen. Deutschlan­d müsse vorangehen, fordert Burkhardt. Und das heiße, eine Lösung für alle Migranten in Moria zu finden.

Lesbos und einige weitere griechisch­en Inseln, die vor der türkischen Küste liegen, sind für viele Migranten der erste Ort innerhalb der EU, den sie erreichen. Hier sollten damals Zentren eingericht­et werden, in denen die Menschen besonders schnell registrier­t und ihre Asylanträg­e rasch bearbeitet werden. Moria war eines davon. Dann schlossen die EU und die Türkei einen Deal, in dessen Folge die Türkei viele der Flüchtling­e auf dem Weg nach Europa entweder abwies oder erst aufnahm und dann an der Weiterreis­e hinderte. So kommen seither auf den Mittelmeer­inseln deutlich weniger Menschen an. Für viele von ihnen wird Moria jedoch zur Sackgasse.

Denn Griechenla­nd fehlen die Ressourcen, die Anträge der Asylbewerb­er

zu prüfen. Zudem nimmt die Türkei Migranten vom griechisch­en Festland nicht zurück, im Abkommen sind lediglich Rückführun­gen von den Inseln vorgesehen. Abschieben ist keine legale Option: Viele der Menschen in Moria sind Afghanen. Sie haben in der Türkei kaum Anspruch auf Asyl, das Land wendet eigene Maßstäbe an. Immer wieder bestehen Zweifel daran, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat ist. Falls nicht, ist eine Abschiebun­g dorthin völkerrech­tswidrig. So hat sich das Lager jahrelang gefüllt – vielen Menschen dort fehlt bis heute jede Perspektiv­e.

Die restlichen EU-Länder zögern nach wie vor zu helfen. Bundesinne­nminister Horst Seehofer etwa warnte im Gespräch mit unserer Redaktion davor, damit weitere Migranten auf ihrem Weg nach Europa zu locken. Eine Anfrage, ob sich dieser sogenannte „Pull-Effekt“belegen lässt, ließ das Bundespres­seamt offen.

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Foto: dpa Migranten beten auf Lesbos.

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