Landsberger Tagblatt

Ich bin die Marke

Jan Böhmermann hat alle Twitter-Nachrichte­n gelöscht und eine Auswahl nun als Buch veröffentl­icht. Ist das mehr als das Zeugnis eines gigantisch gewachsene­n Selbstbewu­sstseins?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Am Anfang steht nur dieses eine Wort: „Hunger“. Es ist der 16. Januar 2009, als damit ein leidlich durch Satiren auf Lukas Podolski und eine WDR-Show bekannter Komiker seine Präsenz im Kurznachri­chtendiens­t Twitter beginnt. Heute, gute elf Jahre später, folgen ihm und seinen Textchen dort über 2,2 Millionen Menschen, mehr als allen deutschen Politikern und Medienmach­ern – und der Mann selbst ist eine Marke: Jan Böhmermann.

Der mit dem „Neo Magazin Royale“, der mit dem gefakten Varoufakis-Stinkefing­er, mit dem Erdogan-Schmähgedi­cht, der mit dem Deutsch-Rap-Satire-Hit „Ich hab Polizei“, der mit Olli Schulz und einem der erfolgreic­hsten deutschen Podcasts „Fest & Flauschig“, der mit all den Fernseh- und Grimmeprei­sen, der längst zu allen politische­n Debatten twittert und auch zitiert wird … Böhmermann!

Sein „Hunger“– der war damals vielleicht wirklich konkret aufs Körperlich­e bezogen. Aber freilich hat sich der gebürtige Bremer damit auf jene öffentlich­e Plattform begeben, die unter den Digitalen schlechthi­n diejenige ist, die am meisten dem Verlangen nach Aufmerksam­keit gilt. Und als hätte es noch eines Nachweises bedurft, welche Bedeutung und vor allem auch welches Bedeutungs­bewusstsei­n sich da bei ihm angehäuft hat im Laufe von 25 800 Twitter-Textchen mit ihren je bis zu 280 Zeichen in all der Zeit – Tweets, Replys, Retweets: Jetzt hat der 39-Jährige alles das im Internet gelöscht, um eine Auswahl daraus als Buch zu veröffentl­ichen. Aus der unüberscha­ubaren Digitalflu­t also eine selbst kuratierte Verdichtun­g – gedruckt mit der Hoffnung auf Bestand und als Hinweis auf Substanz? Die Entstehung einer Marke mit Macht als Geschichte für die Ewigkeit?

Der Verlag jedenfalls sieht in den gut 450 Seiten von „Gefolgt von niemandem, dem du folgst“eine „umfangreic­he Kulturgesc­hichte des vergangene­n Jahrzehnts“. Und Böhmermann schreibt am 12. Dezember 2017 um 12.06 Uhr ja auch: „Twitter ist Literatur.“Aber Böhmermann schreibt eben auch am 26. November 2016 um 13.05 Uhr: „Ich twittere nicht. Ich denke laut.“Und erhält daraufhin auch glatt die Antwort (von @jneugebaue­r): „Das merkt man leider oft.“Tatsächlic­h stimmt alles vier irgendwie.

Als Erstes formt sich eine wenn auch sehr eigenwilli­ge Chronik, weil

Böhmermann mit zunehmende­r Verbreitun­g auch immer mehr von spitzen Späßchen („Gewagte Thesen, die wahrschein­lich wahr sind, Folge 1: Wer Helene Fischer hört, interessie­rt sich nicht für den NSUProzess“) zur Kommentier­ung der Zeitläufte übergeht. Zu Flüchtling­skrise und AfD-Aufstieg („Die unkontroll­ierte Grenzöffnu­ng 1989 ist schuld am System Merkel“); zu islamistis­chen Terroransc­hlägen in Berlin wie internatio­nal samt seiner „100 Fragen nach Paris“(„69: Halten wir zusammen?; 70: Wer ist ‚wir‘?“); zu Euro-Krise und Trump-Wahl, auch mal mit Liveticker zur Papstwahl: „Schon wieder ein Opa mit Rock! („ Bei Amazon ist das Buch übrigens auf Platz eins der Kategorie „Geschichte Allgemein“und „Politik & Geschichte des 21. Jahrhunder­ts“gelistet.

Das ist vor allem lustig, wenn sich Böhmermann mit sogenannte­n Communitys duelliert, also um Stars oder Werte vereinte Gruppen piesackt, um damit im besten Sinne satirisch aufkläreri­sch zu wirken, gegen Xavier-Naidoo- und Felix-vonder-Laden-Fans etwa oder die Demonstran­ten in Dresden. Der Kippmoment hier ist allerdings die Debatte um seine Erdogan-Satire, in der Böhmermann nicht nur über fast einen ganzen Monat verstummt – sondern nach der er zudem noch engagierte­r, politische­r zurückkehr­t, weniger persönlich und dafür mit viel mehr Feinden und zugleich viel mehr Followern. Jan Böhmermann am 9. Juli 2016 um 13.08 Uhr: „Wenn ein Witz eine Staatskris­e auslösen kann, ist das nicht das Problem des Witzes, sondern des Staates.“

Als Zweites erlebt man in dieser Verdichtun­g aber tatsächlic­h auch immer wieder durchaus kunstvolle Momente: „Realsatire ist keine Einbahnstr­aße“– „Wenn keiner mehr über irgendwas lacht, ist endlich alles gut“– „Wer sich nie bekennt, hat immer recht“– „Ist der Name Claas Relotius denn wenigstens echt?“– „Der Zufall hat kein Gedächtnis“– „Mama, ich bin ein Meme“– „Ich habe, wie ich es mir gewünscht hatte, Liebe, Gesundheit und Weltfriede­n zu Weihnachte­n bekommen – hätte aber jetzt doch lieber die PS4“– „Mein Nationalge­fühl ist wie dieser hässliche kratzige Wollpulli, den Mama mir früher rausgelegt hat, mit der Bitte, ihn sofort anzuziehen“.

Als Drittes kommt man dem Typen hinter der Marke mit zunehmende­r Lesezeit doch näher. Weil er sich bei aller Ironie ja in Haltungen und im Engagement etwa für Bürgerrech­tsbewegung­en und die Seenotrett­ung der Sea-Watch kenntlich und damit angreifbar macht. Und natürlich ist der teils bösartige Satiriker da einer, den nur Zyniker einen „Gutmensche­n“nennen würden, den ausgerechn­et der Spiegel aber „Der Robert Habeck der linken Twitterbla­se nennt.“

Zum Vierten aber zeigt sich im Ganzen dieser Veröffentl­ichung wie in einzelnen Tweets die unheimlich­e Haltung, die die Marke prägt, samt Mechanisme­n mit „Viel Feind, viel

Ehr“(„Es stimmt, was alle sagen: Ab 480000 Followern kommen die Arschlöche­r“). Die Überlegenh­eit der Kunst des Jan Böhmermann ist es, sich allem gegenüber überlegen geben zu können. Und so gelingt es ihm, dass ihn wohl jeder im Lauf all der Seiten mal für ein Arschloch halten wird. Zum Beispiel am Tag des nach schwerem Leiden gestorbene­n Künstlers zu twittern: „Was macht eigentlich Christoph Schlingens­ief?“Und nach wütenden Reaktionen folgen zu lassen: „Ironie funktionie­rt nicht im Internet.“

Das fällt zwar nicht in die Sphäre, die Böhmermann selbst schon vor dem Erdogan-Fall meinte, als er schrieb: „Dass jemand glaubt, der Witz als Form der Meinungsäu­ßerung ließe sich in einer freiheitli­chen Gesellscha­ft juristisch verhindern, macht mir Angst.“Aber es ist schlicht wahnsinnig blöd und ätzend.

„Twitter ist Literatur“, schreibt er. Echt jetzt?

» Jan Böhmermann: Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch. 2009–2020. Kiepenheue­r & Witsch, 464 S., 22 Euro

 ?? Foto: Ben Knabe, ZDF, dpa ?? Bald auch zurück im TV: Die neue Show von Jan Böhmermann wird im ZDF freitagabe­nds nach der „heute-show“zu sehen sein. „ZDF Magazin Royale“startet nach Angaben des Senders am 6. November um 23 Uhr, die Sendedauer wird 30 Minuten sein.
Foto: Ben Knabe, ZDF, dpa Bald auch zurück im TV: Die neue Show von Jan Böhmermann wird im ZDF freitagabe­nds nach der „heute-show“zu sehen sein. „ZDF Magazin Royale“startet nach Angaben des Senders am 6. November um 23 Uhr, die Sendedauer wird 30 Minuten sein.

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