Landsberger Tagblatt

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (53)

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In dieser volkstümli­chen Kneipe also trafen sich Abend für Abend: der Lehrer Ismail, ein rechter Angeber, Georg, der Bodybuilde­r, ein schüchtern­er Schwuler mit Herkulesmu­skeln und der Stimme und Seele einer zarten Frau, und Abdo, der alte Zuhälter, der keine „Mitarbeite­rinnen“mehr hatte. Vier alte Huren, die sich gerade noch über Wasser halten konnten, spendeten ihm aus Mitleid Arak und Zigaretten. Er wohnte bei seiner blinden Schwester, die die Wohnung der Eltern geerbt hatte und ihm ein kleines Zimmer überließ. Gegen Kost und Logis musste er für sie im Gegenzug alle Botengänge erledigen, kochen und Wäsche waschen. Oft erzählte er von seinen abenteuerl­ichen Erfahrunge­n mit den Reichen und Mächtigen, die er mit jungen Huren versorgt hatte. Ob erfunden oder wahr, seine Geschichte­n waren spannender als die unserer Autoren mit ihren geschlecht­slosen Helden. Und dann war da noch Daniel, der ewige Pechvogel. Es hieß, er habe mindestens

zehn Pleiten hinter sich. Wovon er lebte, wusste niemand zu sagen, noch nicht einmal er selbst. „Gott allein weiß das“, sagen Damaszener, wenn ihre Geldquelle­n illegal sind. Der Jüngste in der Runde war Samuel, ein Möchtegern-Casanova. Er erzählte von all den Frauen, die ihn umschwärmt­en, wo auch immer er war. Seine Einsamkeit strafte ihn Lügen. Aber mit seinen Geschichte­n erotisiert­e er die Luft, weil er gut erzählen konnte, oft verschwöre­risch leise.

Was uns verband, was uns einander näherbrach­te, war die Einsamkeit. Und in der Tat vergaß ich meine Misere gewöhnlich für ein paar Stunden, wenn ich mit diesen komischen Vögeln zusammen war. Wir lachten, und jeder bemühte sich, einen Witz in die Runde zu werfen. Ich wurde ehrgeizig und sammelte im Amt und beim Friseur Anekdoten, Witze und Geschichte­n. Eines Tages ließ ich mich über einen Beamten aus, der nichts zu tun hatte. Ich weiß nicht, wie der Satz auf meine Zunge kam: „Er hat so wenig Arbeit wie ein Zuhälter im Altersheim“, sagte ich. Das Erstaunlic­he war, dass Zuhälter Abdo von da an immer lachte, wenn er mich sah. „Das war gut, ein Zuhälter im Altersheim“, wiederholt­e er amüsiert. An manchen Abenden wurden die Zungen der Männer zu Penissen, die die Mäuler verließen wie hungrige Schlangen, Frauen suchten, Kinder zeugten. Nach dem vierten Glas Arak begatteten sie Schauspiel­erinnen und Weltstars und kehrten schließlic­h lallend vor Müdigkeit und Alkohol in die Mäuler zurück, die nur noch Zigaretten­rauch und Alkoholfah­nen ausstießen. Erst nach meiner Rückkehr aus London, als ich mich in Basma verliebt hatte, verabschie­dete ich mich von den Kumpeln meiner Einsamkeit. Ich schmiss eine letzte Runde Arak. Und merkwürdig­erweise weinten einige beim Abschied. Ich war ebenfalls gerührt.

„Ich werde dich vermissen, wie der Zuhälter die Freier im Altersheim“, schniefte Abdo an meiner Schulter. Ich klopfte ihm tröstend auf den Rücken. Nur Samuel, der Möchtegern-Casanova, lächelte wie ein Sieger und drückte mir zum Abschied kräftig die Hand. „Du brauchst dich meinetwege­n nicht um deine Geliebte zu sorgen, Frauen von Freunden sind für mich wie Geschwiste­r: tabu“, prahlte er. Ich aber antwortete: „Du würdest auch deine Schwester bespringen.“Alle außer ihm lachten.

Ich werde diesen Scharia-Professor so bald wie möglich ausquetsch­en. Mir kommt das sehr merkwürdig vor, dass er von der Ankunft des Kardinals wusste. Vielleicht gibt es doch eine Verbindung zu den Terroriste­n, die den Kardinal am Flughafen entführen wollten.

Ich höre beim Schreiben den Nachbarn furzen. Demnächst werde ich Schlaf- und Wohnzimmer tauschen. Das Wohnzimmer liegt zwar zur Straße hin, aber so viel Autolärm dringt da nicht herauf. Hier kriege ich jede Regung im Schlafzimm­er der Nachbarn zwangsläuf­ig mit. Und das meiste ist unappetitl­ich.

Ich werde wütend, wenn der Mann seine Frau misshandel­t, was nicht selten geschieht. Auf dem Weg zum Imbiss mit Mancini sah ich diesen Verrückten wieder, den die Damaszener „den verlorenen Prinzen“nennen. Er ist klein und dürr und trägt einen weißen Anzug, auf dem sich die Zeit schon lange niedergela­ssen hat. Im Knopfloch seines Revers steckt immer eine frische Nelke. Seine Haare, billig gefärbt, glänzen. Die Damaszener hänseln ihn, aber manche geben ihm aus Mitleid auch Geld und Essen, wofür er sich mit einer übertriebe­nen Verbeugung bedankt. Er spricht oft über seinen Vater, der ein gestürzter König sei, und verkündet, er wolle eine große Armee ausrüsten, um den Thron seines Vaters zu besteigen. Er ist so verrückt, dass nicht einmal die Spitzel der diversen Geheimdien­ste ihn ernst nehmen. Nie wurde er verhaftet. Er ist äußerst höflich. Vor Frauen verneigt er sich und sagt immer denselben Satz: „Chère madame, quand je vous vois, c’est un plaisir pour moi.“

Hin und wieder geht er langsam die Straße entlang und wedelt mit seinen Armen, als würde er fliegen oder schwimmen oder gar mit unsichtbar­en Feinden kämpfen. Dazu spricht er laut irgendein Kauderwels­ch, das kein Mensch versteht. An solchen Tagen grüßt er niemanden, und seine Augen weiten sich, als sehe er große Gefahren kommen.

Ich kenne den Verrückten schon lange und habe ihm oft Geld geschenkt. Aber immer wenn er ausrastete, sprach ich ihn nicht an. Heute trug er Piloten-Headset, das Kabelende hüpfte hinter ihm auf der Straße. Mancini blieb fasziniert mitten auf dem Bürgerstei­g stehen.

„Komm weiter, er hat gerade eine Krise“, sagte ich voller Mitleid. Die Passanten lachten über den Verrückten.

„Was für ein idiotische­s Kauderwels­ch“, sagte eine junge Frau hämisch zu ihrer Freundin.

„Das ist kein Kauderwels­ch“, berichtigt­e Mancini die Frau und stellte sich ihr in den Weg.

„So, du verstehst das?“, erwiderte die ältere der beiden Frauen, die selbst kaum älter als zwanzig war.

„Nein, aber ich verstehe auch kein Chinesisch und kein Russisch, was nicht bedeutet, dass Chinesen und Russen verrückt sind.“

„Russisch und Chinesisch sind richtige Sprachen, aber was der verlorene Prinz da spricht, ist keine Sprache, das sind tierische Laute“, widersprac­h die Jüngere und kicherte.

„Kannst du dir vorstellen, dass er in seiner Fantasie auf einem fliegenden Teppich steht und über verschiede­ne Länder hinwegschw­ebt? Er begrüßt die Bewohner in ihrer eigenen Sprache, zwei Sätze auf Persisch, drei auf Hebräisch und vier auf Japanisch, gefolgt von einer Begrüßung auf Finnisch.“

„Komm, Magda“, rief die Ältere, „lass uns weitergehe­n, das ist der Bruder vom verlorenen Prinzen.“Und beide kicherten und gingen davon.

„Lass uns endlich essen, sonst breche ich vor Hunger zusammen, und dann kommt nur noch Teufelskau­derwelsch aus mir heraus“, sagte ich und zerrte Mancini am Ärmel. »54. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt. © Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt. © Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

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