Und dann bist Du wieder candy
Dorothee Elmiger Das Protokoll einer kreisenden Recherche – ziemlich raffiniert!
Zum Verlangen gehört das Bereuen. Weiß zum Beispiel jeder, der mal eines dieser halben Eimerchen Maoam-FruchtKracher in dichter Taktung verarbeitet und sich danach, bald schon, den Bauch gehalten hat. Nun haben dragierte Kaubonbons mit Brausepulver-Füllung aus der Produktion der Firma Hans-Riegel-Bonn nichts mit Dorothee Elmiger zu tun. Außer vielleicht, dass das Buchcover farblich an die Geschmackssorten Orange und Himbeere erinnert, dass die Kracher unwiderstehlich süß sind, dass lose Assoziationen im Deutungsgestrüpp einfach passieren, dass die Kracher „Aus der Zuckerfabrik“kommen, dass Elmigers zuletzt erschienener Text so heißt. Und es dabei um Raffiniertes geht.
Ein Text. Als Buch gebunden. Nominiert für den Deutschen Buchpreis, auf der Shortlist. Diesen allerdings einer Gattung zuzuordnen, wird schon schwierig. Ein Roman ist er jedenfalls kaum. Eine Collage eher, Überblendungen, Filmszenen, Erinnerungsfetzen, Zitate, Eintragungen, literarische Selbstreflexionen aus dem Erzähl-Labor, Uneindeutiges, aber doch miteinander verbunden.
Elmiger selbst beschreibt es so: „Vielleicht das Protokoll einer kreisenden, unordentlichen Recherche zu den Gräben, auf die der Kapitalismus so dringend angewiesen ist, und zu einigen (historischen) Versuchen, diese Gräben mit einem oder beiden Füßen zu überwinden; auch Träume von Müttern und Festmahlen sind darin verzeichnet, einiges über Kutschen, Ekstasen und Kleist.“
Wer jetzt noch nicht gleich auf Zucker ist, dem ist erst mal nicht zu helfen. Auf Elmigers RechercheProtokoll muss man sich einlassen wollen. Es ist das literarische Gegenteil einer Haribo-Süßigkeit, wenn man so will. Nicht einfach erzählte Geschmackskonzentration, sondern klug Verstreutes, intelligent zerbröselt. Inhaltlich sowieso.
Es gibt verschiedenste Erzählstränge. Da ist der Schweizer LottoMillionär aus dem Kanton Bern, der Ende der 70er ein Vermögen gewinnt und wenige Jahre später alles wieder verloren hat. Da ist Ellen West, eine Patientin des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger, die an einer schweren Essstörung leidet und sich am Ende einer Reihe erfolgloser Behandlungsversuche umbringt. Da ist Theresa von Avila, die Karmelitin und Mystikerin, die auf ein weltliches Leben verzichtet und ihre Erfüllung im Kloster sucht.
Max Frisch spielt eine Rolle. Montauk. Es geht nach Haiti, zu Zuckerrohr-Plantagen. Heinrich von Kleists „Die Verlobung in St. Domingo“wird zitiert. François-Dominique Toussaint Louverture, der freigelassene Sklave und spätere Freiheitskämpfer, tritt auf.
Elmigers Buch, das so auch dem Kolonialismus und seinen mörderischen Folgen nachspürt, ist dabei natürlich politisch. Es geht um Rassismus, um Geschlechter-Rollen, um – wie bei dem gefallenen LottoKönig und seinem Chef – Klassengrenzen, darum, dass „der Kapitalismus schon immer empfindlich angewiesen war auf eine vielfache Spaltung des sogenannten Proletariats, auf eine Akkumulation von Spaltungen (...), die jene voneinander trennen, die im Prinzip auf der gleichen Seite stehen, nämlich auf der Seite derjenigen, die zu viel hergeben und zu wenig kriegen dafür“.
Dazwischen wird immer wieder Zucker gestreut, dieses süße, die Gier entfachende Gift. Am pointiertesten ist die Metapher, das Streben nach Mehr am freien Markt, die unheilvolle Liaison von Lust und ungezügelter Wirtschaft, in einem Zitat aus einer Adam-Smith-Biografie. Da wird beschrieben, wie der Vater der klassischen Nationalökonomie „einmal beim Tee, ohne sich überhaupt an den Tisch zu setzen, Zucker um Zucker aus einer Zuckerschale genommen habe, bis die Gastgeberin, eine ältere Dame, zuletzt nicht mehr anders zu helfen gewusst habe, als die Schale zu sich ,auf ihre eigenen Knie‘ zu nehmen, um den Zucker vor Smiths ,unökonomischen Zugriffen‘ zur retten“.
Auch Elmiger taucht immer wieder auf, analysiert den Text, seine Entstehung, sein Leistungsvermögen, über das verhinderte „Erzählen“. Denn es sei einfach so, „dass immer alles Mögliche geschieht, während ich da an meinem Schreibtisch sitze (...), Leute in orangenen Westen gehen mit Zollstöcken auf dem Dach des Nachbargebäudes umher, und jemand schickt mir eine Nachricht aus Antigua Guatemala, und das muss natürlich alles erzählt werden, weil das ja die Bedingungen sind, unter denen der Text entsteht, also die Verhältnisse, in denen ich schreibe“.
Dabei forscht Elmiger der eigenen Lust, dem Lebenshunger, der eigenen zerstörerischen Begierde nach Zucker nach: Dazu gibt es immer wieder Episoden mit einem gewissen C., der zunächst nicht so greifbar ist, wie sich die das Verhältnis beschreibende Frau wünscht. Die dann doch erfahrene Liebe genügt aber letztlich nicht. Es ist das künstliche Ich von Elmiger.
Sie selbst, Jahrgang 85, ist Schweizerin und lebt in Zürich. 2010 debütierte sie mit „Einladung an die Waghalsigen“, vier Jahre später erschien der Roman „Schlafgänger“. Ausgezeichnet wurde sie schon mehrfach. Nun, sechs Jahre später, also „Aus der Zuckerfabrik“. Das Ergebnis ihrer Recherche könne „eine flüchtige Form der Erkenntnis sein“, die es so vielleicht nur in der Literatur gebe, sagt Elmiger. Dazu gehört ganz unbedingt auch dieser gezuckerte Satz: „Je vivais le plaisir comme une future douleur.“Vergnügen, erlebt wie ein künftiger Schmerz. Stefan Küpper
„…dass immer die Möglichkeit des großen Gewinns bestand“