AudiProzess: Harnstoff, immer wieder Harnstoff
Der Techniker Giovanni P. versucht, seine früheren Chefs bei dem Ingolstädter Autobauer noch stärker zu belasten. Die äußerst technischen Ausführungen des Italieners drehen sich immer wieder um die Abgasbehandlung
München Rupert Stadler muss also ausharren, vielleicht bis Ende 2022, dann weitere rund 175 quälende Münchner Prozesstage lang. Nachdem seine Verteidiger kein ExtraVerfahren für den Manager durchsetzen konnten, wird ihm wie den drei weiteren Angeklagten, allesamt Motorenentwickler, gehörig Sitzfleisch abverlangt. Dem Ex-AudiChef wirft die Staatsanwaltschaft vor, den Verkauf manipulierter Dieselfahrzeuge von Herbst 2015 an nicht gestoppt zu haben. So muss der Betriebswirt die Aussagen der drei einmal unter ihm auf unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen angesiedelten Mitangeklagten über sich ergehen lassen. Immer wieder wird der 57-Jährige erleben, dass der Ingenieur Giovanni P. – wie auch am Mittwoch – detailliert erklärt, der Dieselbetrug sei von oben, vor allem auf Druck von Vertriebsleuten, gesteuert worden.
An den anstehenden Prozesstagen in einem großen Saal unterhalb des Münchner Justizvollzugsanstalt Stadelheim spielt sich dann an jedem Morgen ein ähnliches Ritual ab: Stadler wird wie bislang bemüht sein, möglichst spät Platz in dieser Art Gerechtigkeitsbunker zu neh
um sich den Blicken der Prozessbeobachter nicht noch länger auszusetzen. Draußen werden sich viele Szenen wiederholen: Hundebesitzer führen entlang der endlos scheinenden Gefängnismauern ihre Vierbeiner auf breiten Grünstreifen aus, lassen sie frei laufen.
Stadler wird also immer wieder einen Ort aufsuchen, um den man besser einen Bogen macht. Ob er schon die Skulptur „Licht und Schatten“der Künstlerin Regina Kochs neben dem Gerichtssaal unter der Erde wahrgenommen hat? Der Lichthof mit einer bunt verzierten Wand, der nach oben vergittert ist, stellt, so sieht es die Erschafferin, „eine Leerstelle“dar, „einen von oben belichteten, höhlenartigen Raum“. Die Arbeit soll die Gleichzeitigkeit von Hell und Dunkel thematisieren. Das ist ein Verweis auf die in jedem Strafprozess stattfindende Suche nach Licht und Schatten, „nach einer Wahrheit, die unterschiedliche Perspektiven einbezieht“. Für Stadler und den früheren Audi-Motorenentwickler und Porsche-Forschungsvorstand Wolfgang Hatz, 61, ist die Suche nach der Wahrheit unangenehm. Denn der Motoren- und Abgas-Experte Giovanni P. redet und redet, gespickt mit technischen Verweisen. Der 63-Jährige lässt keine Zweifel aufkommen, dass bei Dieselautos von Audi auf der Rolle, also dem Teststand, weniger Stickoxide ausgestoßen worden seien als auf der Straße. „Straße“und „Rolle“, die Begriffe tauchen immer wieder in den Ausführungen des Italieners auf. Das zentrale Wort des Ingenieurs ist aber „Harnstoff“, der gebraucht wird, um die Emission von gesundheitsschädlichen Stickoxiden von Dieselfahrzeugen zu verringern. Hier versucht der Techniker, das frühere Top-Management immer intensiver zu belasten: „Ein Liter pro 1000 Kilometer, sagte der Audimen,
Vorstand.“Demnach behauptet Giovanni P., dass die Spitzenleute des Unternehmens ehedem den Verbrauch von Harnstoff „gedeckelt“hätten. „Deckeln“, das ist auch ein Lieblingsbegriff von Giovanni P. Dabei seien aber – und hier wird sein zentraler Vorwurf laut– für saubere Dieselfahrzeuge zwei Liter Harnstoff je 1000 Kilometer Fahrleistung notwendig gewesen.
Nun spitzt Giovanni P. seine schon bisher schweren Vorwürfe an einstige Chefs zu: „Priorität hatte Wirtschaftlichkeit, nicht saubere Luft.“Im Kern wirft der Italiener den Ex-Audi-Bossen vor, „dass sie die Kunden nicht verärgern wollten“, indem sie zu häufig Harnstoff, also AdBlue nachtanken mussten. „Die Mutter aller Probleme war die Deckelung des Harnstoff-Verbrauchs und nichts anderes“, doziert Giovanni P. mit lauter werdender Stimme. Fast scheint es, als würde sich das Gericht schon am fünften Verhandlungstag dem Kern des Diesel-Skandals im Audi-Reich nähern. Schließlich wurde mit einer Software der Stickoxidausstoß derart manipuliert, dass er bei Tests, also auf der Rolle, deutlich niedriger als auf der Straße ausfiel. Folglich mussten Dieselfahrer eben nicht so häufig Harnstoff nachfüllen.
Aus den Vorwürfen von Giovanni P. könnte man folgern, dass zu häufiges Harnstoff-Nachtanken und der Premiumanspruch von Audi aus damaliger Sicht manchen Verantwortlichen schwer vereinbar erschienen. Es legt sich ein Schatten über den Prozess. Stadler wird das Wort „Harnstoff“in dem Langzeit-Verfahren noch quälend oft hören. Giovanni P. sagt jedenfalls fatalistisch: „Ohne die Harnstoff-Deckelung säßen wir nicht hier.“Dabei hätten die Techniker immer wieder gewarnt: „Wir dürfen nicht gedeckelt werden. Um saubere Autos auf die Straße zu bringen, brauchen wir Harnstoff.“