Eine Tradition, die lange verschüttet war
Die Textilindustrie hat Augsburg über viele Jahrzehnte geprägt. Heute sind die meisten Zeugen dieser Epoche verschwunden. Warum die Stadt so lange gebraucht hat, um mit diesem bedeutenden Erbe warm zu werden
Augsburg Glaspalast, Fabrikschloss – es sind selbstbewusste Namen, die für eine beeindruckende Geschichte stehen. Heute zählen die Bauten zu den letzten Zeugen einer untergegangenen Epoche, die erst langsam wiederentdeckt wird. In Augsburg schlug über Jahrzehnte das Herz der Textilproduktion in Deutschland. Zu Hochzeiten arbeiteten bis zu 20000 Menschen in rund zwei Dutzend Großbetrieben, die international agierten – zahlreiche kleine Firmen kamen noch hinzu. Das entsprach fast einem Zehntel der Bevölkerung. Augsburg wurde mit der Textilmetropole Manchester verglichen. Der Stadtteil, in dem diese Industrie konzentriert war, heißt seither Textilviertel. Nach Jahrzehnten eines schleichenden Niedergangs schloss 2002 mit der Kammgarn-Spinnerei die letzte der großen Fabriken für immer ihre Tore. Die Reste dieser einst für die ganze Stadt identitätsstiftenden Industrie verschwanden nach und nach aus dem Stadtbild. Heute ist von der Textilbranche in Augsburg fast nichts mehr da, bloß wenige kleine Produktionsstätten sind geblieben – und der Name des Viertels. Seit 2010 gibt es dort ein staatliches Textilmuseum. Die Stadt war seit jeher stolz auf ihre Geschichte, die Römerzeit, den Prunk der Fugger – doch erst seit wenigen Jahren auch auf die Textilindustrie.
Einer, der diese noch selbst miterlebt hat, ist Christian Dierig. Fast alle Unternehmen aus dem 20. Jahrhundert, die mit Stoffen ihr Geld verdient haben, sind verschwunden – Dierig gibt es noch. Im Stadtteil Pfersee vertreibt das Unternehmen nach wie vor Bettwäsche, nur produziert wird hier schon lange nicht mehr. „Die Augsburger sind mit der Textilindustrie lange nicht richtig warm geworden“, sagt Dierig. Sein Vater war in der Textilbranche einst einer der größten Unternehmer des Landes. Doch die Stadt habe sich stets mehr für die Metallindustrie interessiert, erzählt der 63-Jährige. „Auch wenn dort weniger Menschen beschäftigt waren, gab es mehr Geld zu verdienen.“
Dabei hat Augsburg auch der Textilindustrie zu verdanken, dass es 2019 Teil des Weltkulturerbes wurde. Den Titel trägt das Wassersystem, die Kanäle und Kraftwerke prägen das Bild der Stadt. Die Textilindustrie hat viele von ihnen genutzt, manche angelegt oder ertüchtigt. Andere Bauwerke wurden nach der Pleitewelle der Textilindustrie in den Achtzigern und Neunzigern dem Verfall preisgegeben. Nicht alle haben später wieder die Substanz erlangt, wie ihn etwa der Glaspalast heute hat – oder das Dierig-Areal.
Wer sich hier umschaut, erkennt sofort, dass die Backsteinbauten mit
für Industrie und Arbeiter gebaut wurden. Die lukrativen Jahre der Augsburger Textilindustrie in den Sechzigern waren Christian Dierigs Kindheit. Heute ist er Sprecher des Unternehmensvorstandes, 1997 endete die Produktion in Pfersee. In den alten Fabriken sind heute Werkstätten oder Büros, Dierig ist nicht mehr nur Textil-, sondern auch Immobilienkonzern. Das Grau des Asphalts und das Rot der Wände prägen das Firmenareal, grün ist hier wenig. Die Arbeiter sind längst verschwunden. Doch erst langsam besinnt sich Augsburg wieder auf seine Identität als Textilstadt. Als eine Firma nach der anderen zugrunde ging, begannen die Fabriken zu verfallen. Viele von ihnen wurden abgerissen: Dort, wo heute das Einkaufszentrum City-Galerie steht, war früher etwa die Neue Augsburger Kattunfabrik. Und der Niedergang der Branche verwundete nicht nur das Stadtbild.
„Als die Arbeiter ihren Job verloren, fühlten sie sich wie Verlierer“, sagt Dierig. Erst Jahrzehnte später begriffen sie sich als das, was sie aus Dierigs Sicht tatsächlich waren: „Ein tolles Völkchen, das tapfer gekämpft hat bis zum Ende.“Dass es die Firma Dierig heute noch gibt, liegt auch daran, wie dieses Ende gestaltet wurde: Früh habe man die Produktion heruntergefahren, die Maschinen verkauft, bevor der Markt dafür gesättigt war. Als damals aus vielen Mitarbeitern Arbeitslose wurden, habe das Unternehmen versucht, „eine anständige und soziale Lösung zu finden“, sagt Dierig. Dennoch war das Ende der Produktion „die größte Katastrophe“, wie eine ehemalige Mitarbeiterin es in einem Zeitzeugeninterview des Textilmuseums sagt. „Mit den Entlassungen ist unser Leben, unser Arbeitsplatz einfach weggeklappt.“Dafür habe sie Dierig persönlich die Schuld gegeben.
Adalbert Kraus hat bis zum Stopp der Produktion in der Firma gearbeitet. Der 84-jährige Augsburger war von 1953 an im Konzern, arbeitete als Weber, lernte dort seine Frau kennen. „In jeder Familie gab es mindestens einen, der in der TexMetalldächern tilindustrie war“, erinnert er sich im persönlichen Gespräch. Bis zum Beginn der Corona-Pandemie habe er sich noch mit früheren Kollegen zum Kegeln getroffen, auf der Arbeit viele Freunde gefunden. Doch in einer starken Gewerkschaft, wie etwa die Kohle- und Stahlarbeiter an Ruhr und Saar, waren die Weber nicht organisiert. Wie Museumsdirektor Karl Murr sagt, hätten die Arbeiter in erster Linie innerhalb ihres Betriebes zusammengehalten. Außerhalb der Branche konnten Weber mit ihrem Beruf lange nur wenige beeindrucken.
„Im Sommer hatte es über 40 Grad Celsius in der Fabrik, die Luft stand, es war laut und wir haben rund um die Uhr im Schichtbetrieb gearbeitet“, erzählt Arbeiter Kraus. „,Hättest du mal etwas Anständiges gelernt‘ haben die Leute dazu nur gesagt.“Kraus ist dennoch stolz auf seinen Beruf, in einem Ordner sammelt er Zeitungsartikel und Zeichnungen von Stoffen, Produzenten und Arbeitern. „Es ist schade, dass nichts mehr da ist“, sagt er.
Viele Augsburger blickten heute wehmütig auf die Industrie zurück, schildert Historiker Murr. „Die Nostalgie tritt ein, wenn Dinge verschwunden sind.“Für viele in der Stadt war die Textilindustrie lange Arbeitsplatz, bei Dierig oder woanders. Nach dem Produktionsstopp im Glaspalast war lange unklar, was mit dem Gebäude passiert. Es hätte verfallen und zum Schandfleck werden können, das Ende der Textilindustrie gar zum „Trauma“für die Stadt, sagt Murr. Stattdessen zählt der renovierte Glaspalast heute zu den markantesten Gebäuden der Stadt – und den Denkmälern für Augsburgs Textiltradition.