Eine Entdeckerin mit dem Akkordeon
Annette Rießner aus Dießen spielt ein eher ungewöhnliches Konzertinstrument, das es erst seit 60 Jahren gibt. Trotzdem lässt sie damit auch Barockmusik erklingen
Dießen „Will man klassische Konzertstücke auf dem Akkordeon spielen, dann kann man sich entweder der zeitgenössischen Originalliteratur widmen, oder man sucht sich Stücke aus der Musikgeschichte, die sich gut auf das Akkordeon übertragen lassen.“Wenn Annette Rießner über ihre Profession spricht, tut sich ein eigener Kosmos auf und es werden hie und da Erklärungen notwendig, welche die Akkordeonistin aus Dießen auch gerne gibt.
Ein erster wesentlicher Punkt, um das zitierte Problem im Umgang mit der Musikliteratur zu verstehen, ist beispielsweise das „EinzeltonBass-Manual, auch kurz M3 oder Melodiebass genannt, das seit den 1960er-Jahren das Konzertakkordeon auszeichnet und einen deutlichen Unterschied zum volksmusikalisch gebräuchlichen Standardbass-Akkordeon macht. Dem Melodiebass sind nämlich keine vorgekoppelten Akkorde zugeordnet“, erläutert Annette Rießner. Das bedeutet, dass „auch im Bassbereich ein tonhöhenrichtiges Melodiespiel möglich ist.“Es lassen sich in der Musikgeschichte also durchaus Stücke finden, die mit dem Konzertakkordeon intoniert werden können, obwohl das Instrument in dieser Form gerade einmal 60 Jahre existiert. „Eine Transkription des Notenmaterials ist gar nicht notwendig. Barockmusik eignet sich ganz gut, vor allem Stücke für Cembalo oder Orgel“, erklärt die Musikerin. „Man wird zwangsläufig zum ‚Musikentdecker’ und findet nach und nach die Komponisten, deren Musik dann auch zum eigenen Stil passt. Ich zum Beispiel liebe Scarlatti, der über 500 Sonaten für Cembalo geschrieben hat und ein absolut originelles Verständnis von Musik hatte.“
Gerade vier Jahre alt, begann Annette Rießners musikalischer Werdegang. Zunächst erlernte sie Klavier und stieg elfjährig auf das gängige Tastenakkordeon um. „Akkordeon war schon immer mein Instrument“, erzählt sie, und so ist es nicht verwunderlich, dass sie drei Jahre später zum anspruchsvolleren Knopfakkordeon mit Melodiebass wechselte. Schließlich studierte sie Musik in Ufa/Baschkirien in Russland, später in Berlin und schloss ihre Ausbildung in Freiburg ab. Sie gewann nationale und internationale Wettbewerbe und legte noch während des Studiums einen Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit auf Möglichkeiten der kreativen Mitgestaltung und Ausarbeitung außergewöhnlicher Konzertideen. 15 Jahre lang hat sich die Akkordeonistin „konzeptionell mit dem Begriff Konzert auseinandergesetzt“und ist mit experimentellen Musikprojekten und ungewöhnlicher Aufführungspraxis „oft auch an die Grenzen gegangen“. Dabei stand für sie neben der Musik immer das Miteinander im Sinne einer Zusammenarbeit mit jungen Komponisten, Schauspielern, Schriftstellern, Bildenden Künstlern oder Kindern im Fokus. In Dießen initiierte sie 2019 beispielsweise ein Klang-KunstProjekt mit dem Titel „Grundrauschen“, für das sie Geräusche, Töne und Stimmen aus der Marktgemeinde einfing, diese kompositorisch verdichtete und als Inspiration einigen Bildenden Künstlern zur Verfügung stellte, damit sie ausgehend vom Hörbaren neue Werke entwickelten. Die dabei entstandenen Arbeiten übersetzte Annette Rießner erneut ins Akustische und komponierte „Antworten zur Kunst“.
Aber auch zu ihrem Publikum sucht und findet die Musikerin neue Wege, so entwickelte sie bereits während des ersten Corona-Lockdowns das Konzept der „Live Jukebox am Gartenzaun“, um „in dieser verrückten Zeit wenigstens für ein bisschen Kulturgenuss zu sorgen, der nicht aus dem Netz kommt“. Im eigenen Garten, unter freiem Himmel spielte sie für Spaziergänger deren Wunschstücke aus einem am Gartenzaun befestigten Repertoirekatalog. Ähnlich kreativ ist auch ihre Idee der Hauskonzerte, für die man sich als Gastgeber bewerben kann, um im eigenen Wohnzimmer ein Konzert von Annette Rießner mit einem ausgewählten Kammermusikpartner zu erleben.
Die Phase der Corona-Einschränkungen nutzt sie, um ihre erste SoloCD einzuspielen. „Zuerst dachte ich an eine Auswahl eines aktuellen Konzertprogramms mit vergleichsweise vielen zeitgenössischen Stücken – aber das war es nicht. Denn ich will eine CD machen, die einfach schön anzuhören ist und die man genießen kann. Deshalb wird es jetzt eine CD mit Stücken von César Franck werden, der unglaublich melodiöse Musik geschrieben hat, und das entspricht meinem musikalischen Stil.“Auch für die Zukunft hat Annette Rießner Pläne: „Als Quintessenz aus all diesen ungewöhnlichen Formaten bin ich aktuell bei dem Wunsch angekommen, ganz normale Konzerte zu geben und diese reduzierte und auch distanzierte Form zu genießen.“
Bildende Kunst und Musik im Dialog