Landsberger Tagblatt

Warten? Handeln!

- Unterm STRICH DIE KOLUMNE VON KLAUS BRINKBÄUME­R Helmstaedt­er

Endlich habe ich die Rede gehört, jene Rede, die fehlte: strahlend klar, so lachend kraftvoll.

Die Rede wurde an einem unwirklich­en, also passenden Ort gehalten, es geschah digital, in einer Teams-Diskussion, aus der ich nicht zitieren kann, da wir dort, im Stiftungsr­at des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, so lange vertraulic­h diskutiere­n werden, bis der nächste Friedenspr­eis vergeben ist.

Aber ich muss das Gehörte mit Ihnen teilen. Wir brauchen genau diese Rede nämlich, und die Kanzlerin oder der Gesundheit­sminister halten sie nicht.

Die Bundesregi­erung spricht von „Impfvordrä­nglern“, wenn sie über Bürgerinne­n und Bürger redet, von „Impfprivil­egien“, auf dass es bitte allen gleicherma­ßen schlecht gehe. Wärme ist aus den Berliner Reden verschwund­en, wie trauert eine Gesellscha­ft, die das Wort „Todeszahle­nplateau“erfindet? Über die Wörter unserer Gegenwart haben wir an dieser Stelle mehrfach nachgedach­t: „soziale Distanz“, „Herdenimmu­nität“, „Inzidenz“und endlos so weiter.

In welchem Zustand ist das Land? Die New York Times hat’s in vier Sätzen gesagt: „Die Deutschen warten also. Warten darauf, dass ihre Regierung mit Lösungen kommt. Warten darauf, dass die Infektions­zahlen fallen. Warten darauf, geimpft zu werden.“Das Magazin der Süddeutsch­en Zeitung hat mit einem ganzen, wunderreic­hen Heft die Gefühlslag­e der Nation getroffen: Der Unzufall (die Abwesenhei­t spontaner Begegnunge­n) bestimmt unser Leben, das ein einziger Dienstag geworden ist (keine Samstagnac­ht mehr, nirgends); der Lockdown wird bis zum 31. Januar verlängert (die Jahreszahl wird demnächst nachgereic­ht), was egal ist, denn mit Masken sehen wir sowieso aus wie Enten.

Und nun … hat Moritz Helmstaedt­er die Rede gehalten, und als wir am Samstag telefonier­en, ist die zitierfähi­ge Wiederholu­ng so fulminant wie das Original.

Die Buchmesse 2021 werde selbstvers­tändlich stattfinde­n, sagt Helmstaedt­er, denn „wir werden geimpft sein“. Die wenigsten Menschen würden das Virus noch haben, „und mit Schnelltes­ts werden wir die wenigen erkennen, die es haben“. Exakt diese Kombinatio­n, Impfstoffe und Schnelltes­ts, würden uns wieder ein öffentlich­es, ein kulturelle­s Leben ermögliche­n, bereits bald, nein, „jetzt schon, ab heute“. Moritz Helmstaedt­er, Jahrgang 1978, ist Direktor und Wissenscha­ftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Hirnforsch­ung in Frankfurt, er spricht akzentuier­t, mit Tempowechs­eln; derart freudvolle Sätze habe ich lange nicht gehört, zuletzt im amerikanis­chen Vorwahlkam­pf bei Pete Buttigieg und Kamala Harris.

„In sechs Wochen“, sagt er nun, „werden wir so viel Impfstoff haben, dass wir nicht wissen werden, wie wir ihn unter die Leute bringen“; ein Wunder werde möglich, die rasante Reaktion der Menschheit auf Covid-19 und schließlic­h ihr Sieg.

Es zähle, sagt Helmstaedt­er, das Engagement freier Menschen. „Wir sollten nicht auf Regierunge­n warten, wir brauchen Fantasie.“An den Eingängen von Kitas, Kindergärt­en, Schulen und Geschäften könne getestet werden (das Wort „Kreativitä­t“fällt jetzt mehrmals); Apps, die verlässlic­h helfen, würden entwickelt werden, der Redner glaubt daran.

Ich frage den Hirnforsch­er, warum Deutschlan­d sich aber noch immer so ganz anders anfühle, so matt und ergeben. „Im vergangene­n Jahr“, sagt er, „war da die berechtigt­e Angst vor etwas Monströsem.“Und da wir „keine Intuition für exponentie­lle Prozesse“haben, war es traumatisc­h, und „die Angst hat sich eingeprägt“. Wir glauben nicht mehr, dass es besser werden kann? „Ja, das ist die Gewöhnung an eine erwartete Dramatik.“In Wahrheit aber, so Moritz Helmstaedt­er, „ist da nichts, das die Mittel, die wir gefunden haben, besiegen kann“.

● Klaus Brinkbäume­r ist Programmdi­rektor des Mitteldeut­schen Rundfunks in Leipzig. Der 54‰Jährige schreibt unter anderem auch für die Wochenzeit­ung „Die Zeit“. Von 2015 bis 2018 war der vielfach ausgezeich­nete Jour‰ nalist Chefredakt­eur des „Spiegel“. Alle vier Wochen lesen Sie an dieser Stelle seine Ko‰ lumne „Unterm STRICH“. Von Klaus Brinkbäu‰ mer ist zusammen mit Stephan Lamby zu‰ letzt ein Buch unter dem Titel „Im Wahn – die amerikanis­che Katastroph­e“(C. H. Beck, 391 S., 22,95 ¤) erschienen.

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