Freiheit und Frust
Während Inzidenzwerte sinken und Corona-Regeln kippen, steigen die Temperaturen. Mit einigen geht da das Temperament durch. Ein Party-Tag im Englischen Garten, wo junge Leute nach Monaten der Einschränkungen wieder feiern. Und die Polizei nicht zu beneide
München Es ist jetzt wieder Sommer in München, man merkt das sofort. Im Szenelokal „The Italian Shot“müssen die „Fusilloni Tartufo“nun wieder als Instagram-Motiv herhalten. Über die Maximilianstraße röhrt ein McLaren Speedtail, Kaufpreis 2,37 Millionen Euro, weltweit limitiert auf 106 Stück. Aus den Zapfhähnen fließt das Bier in Hektolitern. Surfer gleiten auf der Welle des Eisbachs. Und der Polizeichef von Station 12, zuständig für den Englischen Garten, hat keine Zeit für ein Interview. Schließlich ist ja auch noch die Europameisterschaft, also die Fußball-EM 2020, die nun doch 2021 stattfindet – auch in der Allianz-Arena.
Menschen in Stadien, Menschen am Bierglas, Menschen auf dem Surfboard. Wer hätte daran vor kurzem gedacht?
An diesem Samstagspätnachmittag schiebt sich eine blau-graue Wolkenwand über den Münchner
Himmel. Von ihrem Kurs hängt der Verlauf des Abends ab: Lässt sie alles ins Wasser fallen oder driftet sie vorbei? Dazu gleich mehr.
Zunächst der Blick in die jüngere Vergangenheit, in der es gewaltig krachte in der Landeshauptstadt. Am 8. Mai zum Beispiel, ein Samstag, im Englischen Garten: Ein 16-Jähriger hatte eine 14-Jährige begrapscht, die Lage spitzte sich zu, etwa hundert Jugendliche prügelten aufeinander ein. Als die Polizei einschritt, war plötzlich die Staatsmacht Ziel der Gewalt. Videos, die im Netz kursieren, zeigen grölende Jugendliche, fliegende Flaschen und Deckung suchende Polizisten. Am Ende waren 19 Beamte leicht verletzt.
Ähnliches andernorts. Drei Wochen später feierten 250 Menschen auf dem Neupfarrplatz in Regensburg. Gegen acht wird wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch ermittelt. In wurde ein Polizist von einer Flasche am Schädel getroffen. Im Krankenhaus mussten die Ärzte Glassplitter aus seinem Kopf entfernen. Und auch in weiteren bayerischen Städten kam es zu Ausschreitungen. Vergangene Woche tagte dazu der Innenausschuss des Landtags. Das Innenministerium will die Vorfälle aufklären. Der zuständige Minister Joachim Herrmann von der CSU sprach davon, den Krawallmachern ihren Führerschein zu entziehen: „Das hilft vielleicht beim Denkprozess.“
Ein hitziger Sommeranfang also. Während Inzidenzwerte sinken und Corona-Regeln kippen, steigen die Temperaturen. Und mit einigen geht das Temperament durch. Doch was geschieht da gerade auf Bayerns öffentlichen Plätzen?
Der Englische Garten, gut einen Monat nach der großen Randale. Es ist das erste Wochenende nach weitreichenden Lockerungen der Kontaktbeschränkung in Bayern, 19.30 Uhr. Münchens Vorzeigeklub P1, an der Südspitze des Parks, ist hier nur noch ein unscheinbarer Betonklotz. Nach einem kurzen Spaziergang durch den Wald erscheint die Karl-Theodor-Wiese, auch Monowiese genannt. Die Wolken haben Platz gemacht für die Sonne, der Rasen ist trocken.
Die Durchtrainierten spielen Frisbee oder Volleyball, die Hartgesottenen erfrischen sich im Bach, die Entspannten sitzen grüppchenweise zusammen. Der Altersdurchschnitt liegt vielleicht bei Anfang 20 und doch überlappen sich Welten: Neben einer Lautsprecherbox tanzen zwei junge Frauen gedankenverloren zu „Don’t Stop Me Now“von Queen. Bei jedem „Don’t“gehen sie in die Knie. Don’t stop me, don’t stop me, uh-uh-uh.
Keine 50 Meter weiter haben sich um die 20 Jugendliche um einen Beerpong-Tisch versammelt. Beerpong, das ist ein Trinkspiel. Es läuft Straßen-Rap, Apache 207. Der Rapper – ein langhaariges Muskelpaket mit Hang zu extravaganter Mode. Man könnte ihn sich bestens im Englischen Garten vorstellen, etwa mit Weinbecher in der Hand, goldgerahmter Sonnenbrille, mit schwerer Zunge. Eigentlich so, wie die BWL-Studentin Amelie. Sie ist zu Besuch aus Braunschweig, der Geburtstag einer Freundin, Betrinken ab halb drei.
„Alle Urlaub, alle Wochenende. Geht ab, ne?“, sagt sie. Fragt man sie, wann es denn zum letzten Mal so richtig abging, stolpert ihr Gedächtnis über die vergangenen anderthalb Corona-Jahre. „2019 im Februar war das. Ach ne, Quatsch, 2020 im Februar.“Lange Zeit, harte Zeit. Und jetzt? „Sobald Corona vorbei ist, gehst du halt überall hin. Alle sitzen einfach draußen, alle feiern. Ist voll geil. Wenn du dich ein bisschen separierst von den ganzen Leuten, dann wird das schon gehen. Ich glaube nicht, dass die Polizei das hier auflöst.“
Um kurz vor 20 Uhr traben plötzlich die Pferde einer Reiterstaffel über den Kiesweg. Andere Beamte gehen in Fünfertrupps über die Wiese, sprechen gezielt große Gruppen mit lauter Musik an. Am Apache-Beerpong-Tisch wird die Box abgedreht. Ausweiskontrolle. Auch ein paar andere Jugendliche erwischt es. Einer, Robert, wird etwas unsanft von seinem Platz geschubst. Frustriert zieht er mit einem Kumpel ab. Dass die Zigarette in seinem Mundwinkel leicht abknickt, merkt er nicht. „Wir haben nur Musik gehört. Dann hat der halt Ausweise verlangt von uns. Und dann haben sie uns mies angepöbelt, dass wir uns verpissen sollen“, erzählt er, noch immer in Sichtweite der Polizisten. Sein Freund interveniert: „Robert, komm, die machen Auge!“Jugendsprache eben. Die beiden verschwinden.
Auf der anderen Seite des Bachufers im Englischen Garten zieht ein Betrunkener, mindestens doppelt so alt wie Robert, sein blaues T-Shirt nach oben, klatscht sich auf den Bauch, öffnet die Handflächen, zeigt provokante Gesten und flucht den Polizisten entgegen: „Kommt mal her, ihr F***n!“Sie kommen nicht, der Mann beruhigt sich bald wieder.
Im gesamten Freistaat versuchen Kommunen, die feiernden Massen einzudämmen. Bloß kein bayeriNürnberg scher Ballermann! In Regensburg ist das Betreten der Jahninsel ab 23 Uhr tabu, Augsburg stellt den To-goVerkauf von Alkohol nach 22 Uhr ein. In Nürnberg wird über Alkoholverbote außerhalb der Gastronomie nachgedacht, in Bamberg und auch am Gärtnerplatz in München ist ein solches schon in Kraft. Nach den Ausschreitungen forderte die Polizei ein Alkoholverbot für den Englischen Garten. Daraus wurde nichts.
Simon Schnetzer hält das alles für eine schrecklich schlechte Idee. Der Jugendforscher aus Kempten sagt: „Die Politik hat zu sehr auf die leichte Schulter genommen, was sie den jungen Menschen durch die starken Einschränkungen antut.“Schnetzer wird am heutigen Mittwoch die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung unter Jugendlichen veröffentlichen. Die Quintessenz verrät er vorab: „Die grundsätzliche Bereitschaft, sich an die Regeln zu halten, ist immer noch hoch. Aber wir sehen eine Tendenz, dass die Rücksichtnahme nachlässt.“
Schnetzer beschreibt eine Mischung aus Frust und Freiheitsdrang. „Die Jungen sagen: Wir haben uns jetzt über ein Jahr zusammengerissen, haben darauf geachtet, dass die Risikogruppen nicht gefährdet werden, haben auf all das verzichtet, was Jungsein ausmacht – feiern, andere Freunde treffen, die Freiheiten genießen, sich verlieben.“Nun kommen die Freiheiten wieder zurück, vor allem mit der Zweitimpfung, vor allem also erst einmal für die älteren Generationen. „Das heißt: Sie hatten am meisten Entbehrungen. Und jetzt haben sie ein starkes Gefühl von Ungerechtigkeit“, sagt Schnetzer.
Der Sommer war ja immer das Sehnsuchtsziel, das Beruhigungsmittel, verschrieben von PandemiePolitikern. „Das wird ein super Sommer“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bereits im Januar. CDU-Kanzleramtsminister Helge Braun versprach: „Im Sommer können wir wieder im Biergarten sitzen.“Auf die Frage, wann Clubs und Bars wieder öffnen könnmit ten, antwortete Ministerpräsident Söder: „Vielleicht im Sommer.“
Jetzt ist Sommer, und Menschen wie Felix juckt es unter den Fingernägeln, wenn auch an diesem Samstag nicht ganz so sehr, die Hausparty gestern, viel Billig-Prosecco, Kopfweh. Also sitzt der 19-Jährige mit vier Freunden vor einer Maracujaschorle in einem kleinen Münchner Wirtshaus. Auf einem Fernsehgerät flimmert die EM 2020, Belgien – Russland, 40. Minute, 2:0.
„Dass man Kontakte reduzieren musste und getestet und geimpft wird, war wichtig. Aber manche Maßnahmen wie die Maskenpflicht draußen oder die Ausgangssperre waren übertrieben“, sagt er. „Schon der letzte Sommer war mit Handbremse, einfach nicht normal.“Die fünf kommen gerade aus dem Englischen Garten, Fazit: „Letztes Mal war irgendwie mehr Stimmung. Da war es auch überwältigender. Du bist da hingekommen und hast seit langem nicht mehr so viele Leute gesehen. Das war schon krass.“
Letztes Mal, das war zwei Wochen zuvor. Felix und seine Freunde erzählen von Moshpits – wildem Tanz – mit 60 bis 70 Leuten, von Beerpong-Partien spät abends unter dem Schein des Handylichts, von einer recht verständnisvollen Polizei auch. „Um halb zwölf ist einer gekommen und hat gesagt: Jungs, spielt eure Runde bitte fertig und geht dann. Unser Einsatzleiter will ins Bett“, sagt Felix.
Mindestens 200 zusätzliche Einsatzkräfte kontrollieren an einem Wochenendtag in München die Einhaltung der Corona-Regeln. Vor vier Jahren habe man die Präsenz im Englischen Garten erhöht, berichtet Sven Müller, Sprecher im Münchner Polizeipräsidium. „Wir haben festgestellt, dass sich die Lage dort verändert hat, dass mittlerweile aus dem ganzen Stadtgebiet Jugendgruppen, auch aus sozial schwachen Gegenden, zusammentrafen und es zu Straftaten kam.“Zwischenzeitlich gab es Einlasskontrollen, die Polizisten mussten sich mit Rassismusvorwürfen auseinandersetzen.
Auch heute noch sieht Müller eine „schwierige Gemengelage“, selbst wenn Gewaltausbrüche wie im Mai die absolute Ausnahme darstellen würden. „Wir sprechen die Leute an und bitten darum, sich regelkonform zu verhalten. Mehr können wir eigentlich auch nicht machen“, sagt er. Jeder Verstoß gegen die Corona-Regeln könne schlicht nicht geahndet werden. Es seien einfach zu viele. „Jetzt sehen wir, welche soziale Funktion eigentlich Diskotheken, Bars und Kulturevents haben. Wenn tausende Menschen dort nicht hingehen können, treffen sie sich bei schönem Wetter halt im öffentlichen Raum“, meint der Polizeisprecher.
Im Englischen Garten lassen sich die Menschenmassen um kurz vor 23 Uhr nur erahnen. Es sind noch weit über 20 Grad, die Stimmung: heiß. Es wird schamlos nach Kippen, Kontaktdaten und Kaugummis gefragt. Auf einem Teil der Wiese vereinigen sich zwei Gruppen mit großen Musikboxen zu einem gemeinsamen Rave, vielleicht 50 Leute, jenseits aller Corona-Auflagen.
In bayerischen Städten kam es zu Ausschreitungen
Am Abend schwanken Betrunkene um Pferdeäpfel
Die Polizeistreifen mit ihren Scheinwerfern lassen sie gewähren. Eindruck machen höchstens noch die Pferdeäpfel, die die Tiere der Reiterstaffel auf dem Gehweg hinterlassen haben. Die Feiernden schwanken vorsichtig um sie herum. Es scheint, als hätte sich nach anfänglicher Überhitzung jeder ein wenig arrangiert mit diesem Zwittersommer aus Freiheit und Vorsicht.
Das P1 um die Ecke ist noch verrammelt, die Wirtschaften stellen in gut einer Stunde den Ausschank ein. Und im Englischen Garten reiten die Menschen weiter durch die Nacht: die Surfer im Schein eines Baustrahlers auf den Wellen des Eisbachs. Und die Raver hinten auf der Wiese, zu den Funkwellen ihrer ElektroPlaylist. In ihrem Pressebericht, Unterpunkt „Einsätze im Zusammenhang mit Feiernden“, wird die Münchner Polizei keinen gesonderten Vorfall im Englischen Garten erwähnen.