In keiner guten Verfassung
Die Pandemie wirkt sich nicht nur auf die Gesundheit aus. Auch die Sicherheit in Deutschland hat stark gelitten. Rechtsextreme und Querdenker gelten als große Gefahr
Berlin Horst Seehofer ist seit gut drei Jahren im Amt, er hat regulär noch etwa drei Monate vor sich, und er hat es sichtbar satt. Seit geraumer Zeit schon, kritisiert der Bundesinnenminister mit leiser, eindringlicher Stimme, warne er vor dem Erstarken des Rechtsextremismus in Deutschland, fordere Reaktionen der Politik – und es passiere fast gar nichts. Der Verfassungsschutzbericht 2020, den der CSU-Politiker mit Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang in Berlin vorstellt, gibt ihm recht. Die Zahl der aktiven Rechtsextremen kletterte um 3,8 Prozent auf 33300. Knapp 40 Prozent gelten als gewalttätig oder gewaltbereit. Doch für den Anstieg ist nicht nur Politikversagen, sondern auch die Corona-Pandemie verantwortlich. Sie hat selbst die Extremen aus ihren Kellern geholt, die das Tageslicht bislang scheuten.
Vor allem Rechtsextremisten nutzten die Anti-Corona-Demos, um für ihre Sache Stimmung zu machen und für die Abschaffung von Staat und Demokratie zu trommeln, erklärt Seehofer. Sie seien zwar in der Unterzahl gewesen, hätten es aber geschickt verstanden, den Querdenker-Kundgebungen ihren Stempel aufzudrücken. Der Innenminister kritisiert gleichzeitig diejenigen, die auf den Demos mitliefen und sich nicht von den Rechten distanzierten.
„Wir haben nicht nur eine besondere Gesundheitslage, sondern auch eine besondere Sicherheitslage“, sagt Seehofer und meint damit neben Neonazis nicht zuletzt die sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter, die den Staat und die Regeln komplett ignorieren. Sie haben Zulauf in einer Größenordnung von fünf Prozent bekommen, wie der Minister erklärt, und auch das sei „eindeutig auf das Protestgeschehen rund um die Pandemie zurückzuführen“.
Etwa 1000 Reichsbürger sind dem Verfassungsschutz bekannt. Sie sind nicht nur Fans kruder Thesen, sie lieben auch Gewehre, Pistolen und Messer. Von einer „hohen Waffenaffinität“spricht Seehofer. Die Behörden haben im letzten Jahr rund 900 Waffenscheine einkassiert. Es gab auch Fälle, in denen wegen der Unzuverlässigkeit des Besitzers Waffen eingezogen wurden, obwohl eine Erlaubnis vorlag.
Der rechte Rand ist so breit geworden, dass der Verfassungsschutzbericht den „Neuen Rechten“erstmals ein eigenes Kapitel widmet. Haldenwang nennt in diesem Zusammenhang die Identitäre Bewegung, das Compact-Magazin, er zeigt mit dem Finger auf das „Institut für Staatspolitik“, das rechte Machtfantasien bedient. Er nennt die AfD, allerdings nur indirekt und nicht beim Namen, denn es gibt bekanntlich gerade einen Rechtsstreit darüber, ob die Alternative vom Verfassungsschutz beobachtet werden darf. Er spricht den sogenannten Flügel der AfD an, der sich nach erheblichem Druck von außen auflöste. Was einige Anhänger aber offenbar nicht mitbekamen. Es seien weiterhin Aktivitäten zu beobachten, sagt Haldenwang. Dem AfDNachwuchs bei der „Jungen Alternative“(JA) wirft er vor, sich des Nazi-Sprechs zu bedienen.
„Extremisten und Terroristen gehen nicht in den Lockdown“, sagt Haldenwang. „Sie sitzen gleichsam im Homeoffice und betreiben von dort aus ihre verfassungsfeindlichen Aktivitäten.“Die Agenda gehe mittlerweile über die reine Mobilisierung zu Protesten hinaus. Ziel sei es, das Vertrauen in die Politik und in staatliche Einrichtungen „nachhaltig zu beschädigen“.
Gefahr geht zum überwiegenden Teil von den Rechten aus. Aber Seehofer attestiert den Linksextremisten ebenfalls eine hohe Gewaltbereitschaft. Früher sei es um das Organisieren von Demos gegangen, heute um gezielte, heimliche Aktionen. Die Zahl der linksextremistischen Gewalttaten stieg um 34,3 Prozent, linksextremistisch motivierte Straftaten erreichten demnach einen neuen Rekordwert.
Der islamistische Terror, sagt Seehofer, bleibe „eine der größten Gefahren“. Es gebe eine „sehr, sehr ernst zu nehmende Bedrohungslage für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für das politische System“, mahnt der Minister und bekräftigt, dass von Entwarnung nicht die Rede sein könne. Im Gegenteil: Durch den Rückzug des ausländischen Militärs aus Afghanistan seien vermehrt IS-Terrortaten denkbar. Die Sicherheitslage in Deutschland bleibe insgesamt angespannt, sagt Seehofer und mahnt: „Wir haben einen Alarmzustand. Ich kann nur hoffen, dass nichts passiert.“
Viele Gruppen beflügeln rechte Machtfantasien