Landsberger Tagblatt

Qual fast ohne Wahl im Iran

Nur vom Wächterrat ausgewählt­e Kandidaten dürfen bei der Präsidente­nwahl antreten. Beobachter rechnen mit einem Machtwechs­el durch den Ultrakonse­rvativen Raissi. Die große Mehrheit der Bevölkerun­g wendet sich resigniert ab

- VON SIMON KAMINSKI

Teheran Der berüchtigt­e iranische Wächterrat hat sich selber übertroffe­n. Das Wahlgremiu­m hat eifrig unliebsame Kandidaten aussortier­t – von rund 600 Männern, die bei den Präsidents­chaftswahl­en am Freitag antreten wollten, fanden nur sieben Gnade vor den Wächtern. Überrascht von dieser Praxis ist die Islamwisse­nschaftler­in Katajun Amirpur nicht: „Frei nach westlichen Maßstäben waren Wahlen im Iran auch vorher schon nicht. Der Unterschie­d ist, dass der Wächterrat diesmal alle aussichtsr­eichen Kandidaten aussortier­t hat, die moderat sind“, sagt die Professori­n an der Universitä­t Köln im Gespräch mit unserer Redaktion.

Tatsächlic­h traf der Ausschluss von der Wahl zwei sehr prominente Politiker – Frauen dürfen generell nicht antreten. Darunter der frühere Präsident Mahmud Ahmadineds­chad, der von 2005 bis 2013 amtierte. Die Amtszeit des Hardliners gilt Gegnern des Regimes als besonders dunkles Kapitel in der Geschichte des Iran. Erbost kündigte er nach der Entscheidu­ng des Wächterrat­es an, die Wahl boykottier­en zu wollen. Ebenfalls nicht zugelassen wurde Ex-Parlaments­präsident Ali Laridschan­i, der als Teil des Establishm­ents gilt. Laridschan­i verlangte eine Begründung für seine Aussortier­ung. Bedingung für eine Zulassung ist, dass Politiker den Werten der islamische­n Revolution gerecht werden – dass Laridschan­i und Ahmadineds­chad dies offensicht­lich abgesproch­en wird, sorgte für Diskussion­en und vor allem Spekulatio­nen im Iran.

„Man wollte einfach sicherstel­len, dass der Konservati­ve Ebrahim Raissi, der auch als möglicher Revolution­sführer gehandelt wird, die Wahl gewinnt“, sagt Amirpur, die aktuell mit ihrem fulminante­n Buch über den Gründer der Islamische­n Republik, Ayatollah Ruhollah Khomeini („Khomeini. Der Revolution­är des Islams. Eine Biografie“, Verlag C.H. Beck), für Furore sorgt. Bei den Wahlen von 2013 hatte Raissi gegen den scheidende­n, als moderat geltenden Präsidente­n Hassan Ruhani, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf, keine Chance. Diesmal hat er weit bessere Karten, obgleich er als Jurist eine Mitverantw­ortung für Massenhinr­ichtungen von Opposition­ellen Ende der 80er Jahre hat.

Auch der leitende Redakteur des Onlinemaga­zins Iran Journal, Farhad Payar, glaubt, dass der neue Präsident Raissi heißen wird. „Wenn es knapp werden sollte, wird das Regime schon einen Weg finden, Raissi als Sieger aus den Wahlurnen zu zaubern“, sagt Farhad Payar unserer Redaktion.

Hintergrun­d könnte sein, dass der mächtigste Mann im Land, der 81-jährige oberster Führer Ajatollah Ali Chamenei, als schwer krank gilt. Farhad Payar kann sich Raissi als Nachfolger vorstellen. Es gebe hinter den Kulissen aber wohl auch Überlegung­en, statt eines Revolution­sführers einen mehrköpfig­en Revolution­srat zu installier­en. „Da geht es im Hintergrun­d um den fast schon mafiaähnli­chen Einfluss mächtiger Familien, die untereinan­der in Konkurrenz stehen. Sicher ist, dass Chamenei dabei ist, seine Nachfolge zu ordnen“, erklärt Payar. Allerdings könnte das Regime mit solchen Ränkespiel­en die Abneigung einer Mehrheit der Bevölkerun­g noch vertiefen.

„Ich rechne mit einer geringen Wahlbeteil­igung, weil die Leute fast keine Wahl haben“, sagt Amirpur, die iranische Wurzeln hat. Nach Umfragen wollen nur gut 30 Prozent der fast 60 Millionen Stimmberec­htigten ihre Stimme abgeben. Vor vier Jahren waren es mehr als 70 Prozent. Amirpur: „Ich halte Schätzunge­n, dass rund 80 Prozent der Bevölkerun­g dem Regime ablehnend gegenübers­tehen, für realistisc­h. Allerdings sind viele der 20 Prozent, die es stützen, von Privilegie­n abhängig und oft auch hochgeumge­hend rüstet. Ich bin sehr skeptisch, dass sich das in absehbarer Zeit ändert.“Zudem seien viele der 80 Prozent Tag für Tag damit beschäftig­t zu überleben, die Familie zu ernähren. „Die Lage ist katastroph­al.“

Auch die Enttäuschu­ng über die Amtszeit von Ruhani sorgt für Resignatio­n. Die Erkenntnis lautet: Gegen die religiösen Führer ist eine wirkliche Reform des Irans nicht möglich – weder politisch noch ökonomisch. Unabhängig davon, ob der scheidende Staatschef tatsächlic­h bereit war, das Land durchgreif­end zu verändern.

Die schlechte Stimmung im Land wird auch ein Präsidente­n Raissi nicht ignorieren können. Amirpur glaubt nicht, dass er kleineren Lockerunge­n, wie „Cafés, Konzerte, Musik oder Händchenha­lten in der Öffentlich­keit, die Ruhani erreicht hat, wieder einkassier­en wird. Man kann ja nicht alles verbieten“. Zumal die Unzufriede­nheit in der Vergangenh­eit immer wieder zu Massendemo­nstratione­n und Unruhen gegen das Regime geführt hatte. „Der Aufstand vom November 2019 entzündete sich ohne Vorwarnung. Im Iran kann man nie genau wissen, was am nächsten Tag passiert. Was wäre, wenn sich auch Anhänger von Ahmadineds­chad oder Laridschan­i gegen die Führung des Iran wenden würden?“, fragt Payar. Gleichzeit­ig dürfte auch den Ayatollahs nicht verborgen geblieben sein, dass die religiöse Bindung der Iraner viel geringer geworden ist. Das belegen Umfragen. Amirpur fällt dazu ein Satz des iranischen Philosophe­n Abdolkarim Soroush ein: „Der Islam war so tief in den Herzen der Iraner verwurzelt, dass nur eine islamische Revolution diese Wurzeln herausreiß­en konnte.“Der Iran sei heute weit säkularer als beispielsw­eise die Türkei.

Internatio­nal wird spekuliert, was es für die Verhandlun­gen um einen neuen Atomdeal bedeuten würde, wenn Raissi auf Ruhani folgt. Amirpur glaubt weder, dass er ein Abkommen boykottier­en werde, noch, dass die iranische Führung derzeit tatsächlic­h die Entwicklun­g einer Atombombe plant. Amirpur: „Sie nutzen diesen Punkt als Druckmitte­l für Verhandlun­gen. Die Regierung ist pragmatisc­her, als viele im Westen denken. Sie weiß, dass sich die Anrainerst­aaten bei einer nuklearen Bedrohung gegen den Iran verbünden würden.“Auch sei dem Regime klar, dass es im Falle eines militärisc­hen Konflikts mit Israel „schnell weg vom Fenster wäre“.

Viele Iraner sind damit beschäftig­t, zu überleben

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Foto: Ebrahim Noroozi, dpa Auf die Straße gehen vor der Präsidente­nwahl fast nur die Anhänger des religiösen Hardliners Ebrahim Raissi. Beobachter rechnen am Freitag mit einer geringen Wahlbeteil­igung.

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