Landsberger Tagblatt

Schief bleibt schief

1990 verfügten Behörden die Schließung des weltbekann­ten Turms von Pisa. Wegen Einsturzge­fahr. Vor 20 Jahren wurde dann seine Rettung gefeiert

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Pisa Was Ingenieurs- und Navigation­skünste angeht, hat Italien zuletzt keine positiven Schlagzeil­en gemacht. Der Brückenein­sturz 2018 in Genua oder die Havarie der Costa Concordia 2012 vor der Insel Giglio sind noch in Erinnerung. In Vergessenh­eit geraten angesichts dieser Katastroph­en auch die bedeutende­n Momente, in denen Schlimmere­s verhindert wurde.

Ein solcher Moment war die Rettung des Schiefen Turms von Pisa. Vor exakt 20 Jahren wurde gefeiert, dass er vorm Einsturz bewahrt werden konnte: Am 16. Juni 2001 beging Italien die Rettung eines seiner Wahrzeiche­n, das zum Weltkultur­erbe der Unesco zählt, in großem Stil. Symbolisch wurde der Schlüssel für die Wiedereröf­fnung übergeben, der Turm, den die Italiener „Torre pendente di Pisa“nennen, war zuvor mehr als elf Jahre geschlosse­n. Gegeben wurde Giuseppe Verdis „Requiem“, eine Messe für den wiederaufe­rstandenen Turm.

1990 hatten die Behörden in der Toskana die Schließung des Turmes verfügt – wegen Einsturzge­fahr. Jahrelang durfte niemand die 273 Stufen hinaufstei­gen. Erst 2001,

dem viel beachteten Sanierungs­projekt einer internatio­nalen Expertenko­mmission, wurde der Turm wieder geöffnet.

In den Jahren dazwischen gelang es, den Turm um 41 Zentimeter aufzuricht­en. Seit 2001 hat sich der schiefe Turm sogar um weitere vier Zentimeter aufgericht­et. Es handelte sich um eine ausgezeich­nete Ingenieurs­leistung, die eine drohende Katastroph­e zu verhindern wusste. „Er war kurz vor dem Umkippen“, wussten Statik-Experten damals.

Einige der damaligen Vorschläge zur Rettung wirkten bizarr. So wurde in den USA der Plan geschmiede­t, den Turm an Heißluftba­llons aufzuhänge­n. Japanische Baumeister wollten ihn Stein für Stein abbauen und schließlic­h wieder gerade aufbauen. In England dachte man über die Umleitung des Grundwasse­rs nach, um die Stabilität des nachgebend­en Bodens zu gewährleis­ten.

Die von der italienisc­hen Regierung berufene Expertenko­mmission griff dann tatsächlic­h im Untergrund ein. Mittels spezieller Bohrsonden saugten Techniker rund 50 Kubikmeter Boden aus dem lehmigen und sandigen Untergrund des Turmes ab. Diese Maßnahme gilt bis heute als die eigentlich­e Rettungsma­ßnahme.

Der im 12. Jahrhunder­t gebaute Turm hatte sich über die Jahrhunder­te infolge von Erdbeben und dem weichen Untergrund immer mehr geneigt. Gedacht war er als stolzer, den Wohlstand der Stadt repräsenti­erender Glockentur­m des Doms von Pisa. Hundert Meter hoch sollte der Turm eigentlich werden. Weil aber bald nach Beginn der Bauarbeite­n im Jahr 1173 die ersten Komplikati­onen auftraten, änderten die Baumeister ihre Pläne. Der Turm wurde dann doch nur 55 Meter hoch.

Für die Sanierung mehr als 800 Jahre später wurde er mit Stahltross­en gesichert, in den Zeitungen war von einem Korsett oder „Hosenträge­rn“die Rede. Schließlic­h wurden knapp 1000 Tonnen schwere Bleigewich­te am Fuße des Monuments angebracht. Durch die langsam abgesaugte Erde im Untergrund richtete sich der Turm Zentimeter für Zentimeter auf, immerhin 45 Zentimeter seit 1990.

Besonders viele Besucher dürfen allerdings immer noch nicht nach oben auf den „Torre pendente di Pisa“, 15 Menschen gleichzeit­ig sind es derzeit. 20 Euro kostet das Vernach gnügen. Am Wochenende ist eine Reservieru­ng obligatori­sch. Wie es heißt, müsse man sich keine Sorgen machen, dass der schiefe Turm sich infolge der Sanierung weiter aufrichte und irgendwann gerade dastehe. Der Turm bleibt schief, so viel scheint sicher – zur Freude von Touristen und Einheimisc­hen.

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Fotos: Franco Silvi/epa/ansa; Fabio Muzzi, dpa Schön und schräg: Besonders viele Besucher dürfen aktuell immer noch nicht nach oben auf den „Torre pendente di Pisa“.

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