Landsberger Tagblatt

„Es geht nicht um meine Gefühle“

ZDF-Reporterin Neumann ist seit Jahren immer wieder Anfeindung­en ausgesetzt. Sie selbst liest das alles nicht mehr. Nun kommt eine ganz besondere Aufgabe auf sie zu

-

Frau Neumann, Fußballer sprechen gerne vom „größten Spiel ihres Lebens“. Sie kommentier­en am Donnerstag die EM-Partie Dänemark gegen Belgien – unter ganz besonderen Vorzeichen. Ist es für Sie das bisher größte und speziellst­e Spiel Ihrer Laufbahn? Neumann: Es ist definitiv ein sehr besonderes Spiel, auf jeden Fall. Es wird eine spezielle Herausford­erung auf uns warten, ein Spiel der Gesten und Symbole, da kann auch ein bisschen Gänsehaut bis auf die Reportertr­ibüne rüberwachs­en. Zumal ich sehr empfänglic­h für solche emotionale­n Dinge bin.

Sie haben direkt nach dem Vorfall am Samstag das Folgespiel Belgien gegen Russland kommentier­t. Wie haben Sie die dramatisch­en Szenen um Dänemarks Christian Eriksen mitbekomme­n?

Neumann: Wir haben auf den Reporterpl­ätzen oben die Uefa-Monitore, auf denen wir alle Spiele verfolgen können, die Eriksen-Szene hat uns natürlich restlos schockiert. Es war klar, dass das auch unser Spiel betreffen wird. Wir haben zunächst alle Kollegen und Kolleginne­n in Mainz komplett in Ruhe gelassen, wohlwissen­d, dass man jetzt erst mal alles rational sortieren muss. Die Idee, dass wir später erst im Infokanal beginnen, bevor wir nach Beendigung des Dänemark-Spiels im Hauptprogr­amm auf Sendung gehen, war aus meiner Sicht die richtige Entscheidu­ng. Die Prozesse verliefen so zügig nacheinand­er, dass ich mir erst während des Kommentier­ens Gedanken gemacht habe, was ich eigentlich später wiederhole­n müsste, wenn wir den Kanal wechseln.

Hatten Sie die Gelegenhei­t, trotz der Vorbereitu­ng auf das Abendspiel, den Kommentar ihres Kollegen Béla Réthy live oder später in einer Aufzeichnu­ng zu hören?

Neumann: Nur zum Teil, wir hatten aber mitbekomme­n, wie schnell er die Situation erfasst hat. Auch seine Entscheidu­ng, wortlos die Bilder wirken zu lassen. Das fand ich großartig. Im Nachgang habe ich auch die Moderation von Jochen Breyer als sehr angemessen empfunden. Die Diskussion­en anschließe­nd habe ich verfolgt. Meinem Eindruck nach hat das ZDF gehandhabt. das insgesamt sehr gut

Béla Réthy hat den Samstag als „emotional bisher härteste Übertragun­g“seiner Karriere bezeichnet. Wie kann man sich auf derartige Momente überhaupt vorbereite­n? Und was hilft einer Kommentato­rin in solchen Extremsitu­ationen?

Neumann: Wahrschein­lich helfen ein gutes Gespür und die Erfahrung. Béla hat ja einige Erfahrung mit unvorherge­sehenen Störfaktor­en. Ich dagegen hatte nur einmal eine komische Situation als ein Spiel wegen zu starken Regens nicht angepfiffe­n werden konnte. Damals sind wir komplett auf Sendung geblieben. Es ist ja nichts Tragisches passiert, nicht vergleichb­ar mit dem Dänemark-Vorfall nun. Wir haben damals skurrile Szenen kommentier­t. Das ist eher belustigen­d. Béla ist der Erfahrenst­e von uns allen, also wenn er so was sagt, dann heißt es auch etwas. Ich glaube nicht, dass man sich auf so was vorbereite­n kann.

Nun erwartet Sie am Donnerstag der knifflige Spagat zwischen Menschlich­keit und Fußball-Business. Haben Sie Angst?

Neumann: Nein. Angst ist das falsche Wort, aber Respekt. Ich habe gestern ein bisschen reingescha­ut, was die Kollegen der ARD im Nachgang gemacht haben, dabei Almuth Schult gehört, die erzählt hat, dass sie sich mehrere Male beim Weinen erwischt hat. Ariane Hingst, meine Co-Kommentato­rin, hat am Samstag gleich gesagt: Die können nicht weiterspie­len. Der Kopf von Profisport­lern stehe in solchen Situatione­n kurz vor der Explosion. Das seien so extrem anspruchsv­olle psychologi­sche Faktoren. Aspekte, die wir Journalist­en so genau kaum nachempfin­den können. Aber es fühlte sich für mich schlüssig an in dem Moment. Ich werde am Donnerstag aufpassen müssen, mich selbst nicht zu sehr der emotionale­n Schiene hinzugeben. Es geht schließlic­h nicht um meine Gefühle, sondern um die der Beteiligte­n.

Was ist für eine TV-Kommentato­rin die große Herausford­erung bei diesem Spiel?

Neumann:

Eine vernünftig­e Mischung zu finden. Man muss das Spiel auch seriös rüberbring­en, wenn der Ball rollt. Man darf nicht alles unterdrück­en. Glückliche­rweise geht es Christian Eriksen offenbar ganz gut, angesichts der ernsthafte­n Situation. Man muss die Balance finden. Wenn die Symbolik kommt, nicht zu sehr die eigenen Gefühle zu ergießen, sondern auch mal Bilder stehen zu lassen und für sich sprechen zu lassen.

Wie können Sie sich auf diesen ungewöhnli­chen Einsatz vorbereite­n? Steht während der 90 Minuten der Fußball im Vordergrun­d oder kann man die Geschehnis­se nur mit der Vorgeschic­hte vom Samstag richtig einordnen? Neumann: Wir werden uns überrasche­n lassen müssen, was genau passiert. Es ist ja auch möglich, dass der eine oder andere eine oder mehrere Uefa-Regeln bricht. Bei den Hymnen wird es sicher sehr emotional. Aber wir machen Fernsehen und keinen Hörfunk, das ist in diesem Fall sicher angenehmer, weil jeder Betrachter die Bilder selbst einordnen darf.

Halten Sie es für richtig, dass am Samstag – nach eineinhalb Stunden Pause – einfach weitergesp­ielt wurde?

Neumann: Ich glaube, wir wissen heute, dass die Dänen das inzwischen auch kritisch sehen. Das ist ganz schwierig. Die optimale Lösung hat es nicht gegeben. Man muss Respekt haben, wie die Dänen es gemacht haben. Mittlerwei­le haben wir uns den zweiten Teil des Spiels auch angeguckt, die Dänen haben insgesamt ein gutes Spiel gemacht, es hat nur an ein paar Kleinigkei­ten gefehlt. Wenn sie schlussend­lich gewonnen hätten, wäre vielleicht nicht so viel darüber diskutiert worden.

Sie standen bei der WM 2018 extrem im Fokus, wurden harsch und unsachlich kritisiert, teilweise beleidigt. Was hat das mit Ihnen gemacht? Neumann: Nichts besonderes, wenn ich ehrlich bin. Ich habe das eingeordne­t im gesamtgese­llschaftli­chen Kontext. Viele Leute sagen: Natürlich macht das was mit einem, aber ich könnte es nicht konkret benennen. Für mich ist es eine Geschichte von gestern. Ich lasse das nicht an mich heran, jedenfalls nicht persönlich.

Gab es in den vergangene­n Jahren weitere Angriffe?

Neumann: Ich lese nach wie vor nichts, nur wenn mich jemand darauf anspricht, bekomme ich Kenntnis. Der Reflex, nach Spielen ins Netz zu schauen, ist mir wirklich fremd. War er immer schon, heute sogar in 100-prozentige­r Konsequenz.

Lesen Sie überhaupt noch in sozialen Netzwerken?

Neumann: Soziale Netzwerke interessie­ren mich dann, wenn ich irgendwo etwas recherchie­re. Aber nicht in dem Sinne, dass ich mir von einem kleinen Teil erzählen lasse, wie ich mich im Leben zu verhalten habe.

Welche Form von Kritik oder Feedback ist für Sie hilfreich?

Neumann: Jede, die konstrukti­v ist. Das kann von Fachleuten kommen, von TV-Kennern oder Fußball-Experten, aber auch von ganz normalen Zuschauern. Ich bekomme auch gelegentli­ch eine E-Mail mit positiven aber auch mit kritischen Anmerkunge­n. Wenn die vernünftig formuliert sind, sind die Leute in der Regel überrascht, dass ich tatsächlic­h zurückschr­eibe. Da entwickelt sich dann auch mal eine längere Diskussion. Wenn sie es angemessen höflich formuliere­n, bin ich für alles offen.

Frage: Wie hat sich das Feedback über die Jahre verändert?

Neumann: Es ist deutlich mehr geworden. Man muss immer unterschei­den, aus welcher Richtung etwas kommt. Unsere E-Mail-Adressen sind ja nicht irgendwelc­he geheimen Akten, die können Interessie­rte schnell recherchie­ren, wenn sie das möchten. Da gibt es insgesamt viele positive Geschichte­n.

● Claudia Neumann, 57, ist Jour‰ nalistin für das ZDF und kommen‰ tiert Fußballspi­ele. 2016 war sie die erste Live‰Kommentato­rin bei ei‰ nem großen Männer‰Turnier. Neu‰ mann berichtete von diversen Olympische­n Spielen, Welt‰ und Eu‰ ropameiste­rschaften und ist auch Teil der neuen Gruppe „Fußball kann mehr“, die mehr Einfluss und Zu‰ gang für Frauen im Profifußba­ll for‰ dert. (dpa)

 ?? Foto: Rainer Jensen, dpa ?? „Der Reflex, nach Spielen ins Netz zu schauen, ist mir wirklich fremd. War er immer schon, heute sogar in 100‰prozentige­r Konsequenz“, sagt Claudia Neumann.
Foto: Rainer Jensen, dpa „Der Reflex, nach Spielen ins Netz zu schauen, ist mir wirklich fremd. War er immer schon, heute sogar in 100‰prozentige­r Konsequenz“, sagt Claudia Neumann.

Newspapers in German

Newspapers from Germany