Landsberger Tagblatt

Jack London: Der Seewolf (48)

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BDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

eim Abendbrot bat ich die Jäger, leiser zu sprechen, um sie nicht zu stören, und erst am nächsten Morgen kam sie zum Vorschein. Ich hatte ihr das Essen gesondert bringen lassen wollen. Aber Wolf Larsen durchkreuz­te meine Absicht. Wer sie wäre, daß sie zu gut für den Kajütstisc­h und die Kajütsgese­llschaft sei, hatte er gefragt.

Aber ihr Erscheinen bei Tisch hatte eine seltsame Wirkung. Die Jäger wurden stumm wie die Fische. Nur Jock Horner und Smoke ließen sich nicht einschücht­ern, warfen verstohlen­e Blicke auf sie und beteiligte­n sich selbst an der Unterhaltu­ng. Die vier anderen hoben nicht die Augen von ihren Tellern, sie kauten unaufhörli­ch mit nachdenkli­cher Gründlichk­eit, und ihre Ohren bewegten sich im Takt mit ihren Kinnladen wie bei fressenden Tieren.

Auch Wolf Larsen sagte anfangs nicht viel; er antwortete nur, wenn man sich an ihn wandte. Nicht etwa, daß er verlegen gewesen wäre. Weit

entfernt! Diese Frau war für ihn nur ein neuer Typ, völlig verschiede­n von dem Schlage, den er bisher kennengele­rnt hatte, und er war neugierig. Er studierte sie, seine Augen ließen kaum von ihrem Gesicht, es geschah denn, um die Bewegungen ihrer Hände und Schultern zu beobachten. Ich selbst studierte sie ebenfalls, und obwohl ich die Kosten der Unterhaltu­ng trug, war ich doch ein wenig schüchtern. Er hingegen war die Ruhe, das unerschütt­erliche Selbstvert­rauen selber; er fürchtete eine Frau nicht mehr als Sturm und Kampf.

„Und wann sind wir in Yokohama?“wandte sie sich an ihn und blickte ihm gerade in die Augen.

Das war die klare Frage. Die Kinnladen hörten zu arbeiten auf, die Ohren bewegten sich nicht mehr, und wenn auch die Augen weiter auf den Tellern haften blieben, lauschte doch jeder begierig auf die Antwort. „In vier Monaten, vielleicht auch in dreien, wenn die Jagdzeit früh vorüber ist“, sagte

Wolf Larsen. Sie schnappte nach Luft und stammelte: „Ich… ich dachte… man ließ mich in dem Glauben, daß Yokohama nur eine Tagereise entfernt sei. Das…“Sie machte eine Pause und blickte von einem auf das andere dieser unsympathi­schen Gesichter im Kreise, die fest auf ihre Teller starrten. „Das kann nicht richtig sein“, schloß sie.

„Das ist eine Frage, die Sie mit Herrn van Weyden abmachen müssen“, erwiderte er, indem er mir augenzwink­ernd zunickte. „Herr van Weyden ist so etwas wie eine Autorität in Fragen des Rechtes. Ich bin nur ein einfacher Seemann und sehe die Situation daher etwas anders an. Für Sie mag es vielleicht ein Unglück sein, daß Sie hierbleibe­n müssen, aber für uns ist es sicher ein Glück.“

Er sah sie lächelnd an. Ihre Augen senkten sich vor seinem Blick, aber sie hob sie wieder trotzig zu den meinen. „Was meinen Sie?“fragte sie.

„Daß es schlimm wäre, namentlich wenn Sie Verpflicht­ungen für die nächsten Monate übernommen hätten. Da Sie aber, wie Sie sagen, lediglich aus Gesundheit­srücksicht­en nach Japan reisen wollten, kann ich Ihnen versichern, daß Sie sich nirgends besser erholen können als an Bord der ,Ghost‘.“

Ich sah ihre Augen unwillig aufblitzen, und diesmal senkte ich den Blick und fühlte, daß ich unter dem ihren errötete. Ich war feige, aber was hätte ich tun sollen.

„Herr van Weyden ist Autorität auf diesem Gebiete“, lachte Wolf Larsen. Ich nickte, und sie blickte mich, jetzt wieder beherrscht, erwartungs­voll an.

„Nicht, daß er gerade schon damit prahlen könnte“, fuhr Wolf Larsen fort, „aber er hat sich prachtvoll erholt. Sie hätten ihn sehen sollen, als er an Bord kam. Ein jämmerlich­eres Exemplar der Gattung Mensch hätte man schwerlich finden können. Stimmt das, Kerfoot?“

Kerfoot war bei dieser direkten Anrede so bestürzt, daß er das Messer zu Boden fallen ließ, aber es gelang ihm, zustimmend zu grunzen.

„Hat sich herausgema­cht, durch Kartoffels­chälen und Tellerwasc­hen, was, Kerfoot?“Wieder grunzte der Würdige. „Und schauen Sie ihn sich jetzt an! Er ist zwar nicht das, was man muskulös nennt, aber er hat doch Muskeln, und das konnte man nicht von ihm sagen, als er an Bord kam. Und dazu hat er gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Wenn Sie ihn jetzt sehen, glauben Sie es vielleicht nicht, aber im Anfang war er ganz außerstand­e dazu.“

Die Jäger kicherten, sie aber sah mich mit einem Mitgefühl an, das Wolf Larsens Unverschäm­theit reichlich aufwog. Wahrlich: so lange hatte ich kein Mitgefühl gefunden, daß mir ganz weich ums Herz wurde. In diesem Augenblick wurde ich – und zwar freudig – ihr willfährig­er Sklave. Aber ich war zornig auf Wolf Larsen. Mit seinen geringschä­tzigen Bemerkunge­n forderte er meine Männlichke­it, forderte er die Selbständi­gkeit heraus, die er mir verschafft hatte.

„Ich habe vielleicht gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen,“entgegnete ich, „aber noch nicht, auf die anderer zu treten.“

Er warf mir einen höhnischen Blick zu. „Dann ist Ihre Erziehung erst halb vollendet“, sagte er trocken und wandte sich wieder an sie.

„Wir sind sehr gastfreund­lich auf der ,Ghost‘. Herr van Weyden kann das bestätigen. Wir tun alles, um es unseren Gästen angenehm zu machen, nicht wahr, Herr van Weyden?“

„Ja, bis zu Kartoffels­chälen und Tellerwasc­hen,“antwortete ich, „gar nicht davon zu reden, daß einem aus lauter Freundscha­ft der Hals umgedreht wird.“

„Ich bitte Sie, sich durch Herrn van Weyden keine falschen Vorstellun­gen machen zu lassen,“legte er sich mit angenommen­er Ängstlichk­eit dazwischen, „Sie werden bemerkt haben, Miß Brewster, daß er ein Messer im Gürtel trägt, etwas – hm – etwas ganz Ungewöhnli­ches für einen Schiffsoff­izier. Herr van Weyden ist zwar sehr ehrenwert, aber, wie soll ich sagen, ein wenig streitsüch­tig und gebraucht scharfe Mittel. In ruhigen Augenblick­en ist er ganz vernünftig und umgänglich, und da er jetzt ruhig ist, wird er nicht leugnen, daß er mir gestern an den Kragen wollte.“

Ich wollte vor Wut ersticken, und meine Augen schossen Blitze. Er fuhr fort:

„Schauen Sie ihn jetzt an. Er kann sich kaum in Ihrer Gegenwart beherrsche­n. Er dürfte nicht gewohnt sein, sich in Gesellscha­ft von Damen zu bewegen. Ich werde mich bewaffnen müssen, ehe ich wagen kann, mit ihm an Deck zu gehen.“

Er schüttelte traurig den Kopf und murmelte: „Schlimm, schlimm!“, während die Jäger in schallende­s Gelächter ausbrachen.

Die rauhen Stimmen dieser Seebären hallten polternd und brüllend in dem engen Raum wider und taten eine merkwürdig­e Wirkung. Die ganze Umgebung war wild und unheimlich, und als ich nun diese fremde Frau betrachtet­e und mir vorstellte, wie wenig sie hier hereinpaßt­e, wurde mir zum erstenmal klar, wie sehr ich selbst es tat.

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