Landsberger Tagblatt

Der Täter war polizeibek­annt

Verbrechen

- VON CEDRIC REHMAN

Das Blutbad in Kongsberg, bei dem ein Mann mit Pfeil und Bogen fünf Menschen getötet hat, entsetzt ganz Norwegen. Warum der Geheimdien­st die Tat inzwischen nicht mehr als „Terror“einstuft

Kongsberg Miriam Einangshau­g war in Oslo gerade in einer Sitzung, als um 18.30 Uhr eine Push-Nachricht auf dem Display ihres Smartphone­s auftauchte. Sie las von Toten und Verletzten in der Kleinstadt Kongsberg, 80 Kilometer südwestlic­h von Oslo. Und von einem Täter, der mit Pfeil und Bogen Jagd auf Menschen machte. Die 26-Jährige erstarrte.

Sie war vor etwas mehr als zehn Jahren – am 22. Juli 2011 – auf der Insel Utøya selbst um ihr Leben gerannt. Der Rechtsextr­emist Anders Behring Breivik hatte damals 69 Menschen in einem Sommercamp der sozialdemo­kratischen Jugendorga­nisation AUF erschossen. Miriam Einangshau­g engagiert sich seit dem vergangene­n Jahr bei Støttegrup­pen, dem Verband der Überlebend­en und Hinterblie­benen des Anschlags. „Es ist schrecklic­h für die Menschen in Kongsberg“, sagt sie.

Die Nachricht von dem Täter, der am Mittwochab­end in der rund 22000 Einwohner zählenden Kleinstadt mit Pfeil und Bogen auf Menschenja­gd ging, hat nicht nur in Norwegen Entsetzen ausgelöst.

Der Schütze hatte einen Supermarkt der Kette Coop gestürmt. Medienberi­chten zufolge zielte er wahllos auf Kundinnen und Kunden. Ihnen blieben zwischen Regalen und Tiefkühltr­uhen wenig Chancen, zu entkommen. Vier Frauen und ein Mann im Alter zwischen 50 und 70 Jahren starben, zwei weitere Supermarkt­kunden liegen auf der Intensivst­ation eines Krankenhau­ses. Die Polizei überwältig­te den 37-jährigen Schützen mit dänischer Staatsange­hörigkeit schließlic­h. Er gestand die Tat noch in der Nacht.

Ein Sprecher der Polizei erklärte,

dass mit „ziemlicher Sicherheit“der Gefasste allein für das Blutbad verantwort­lich sei. Ersten Erkenntnis­sen zufolge hatten die Behörden den Dänen wegen einer islamistis­chen Radikalisi­erung bereits im Blick. Demnach kontaktier­te er auch den norwegisch­en Gesundheit­sdienst.

Inzwischen ist bekannt, dass er wegen psychische­r Probleme mehr als einmal in Behandlung war. Der norwegisch­e Geheimdien­st PST hatte am Donnerstag zunächst von „Terror“gesprochen. Mittlerwei­le stuft er die Tat als Anschlag mit unklarer Motivlage ein.

Dieser ereignete sich nur einen Tag vor der Vereidigun­g des neuen norwegisch­en Ministerpr­äsidenten Jonas Gahr Støre von der sozialdemo­kratischen Arbeiderpa­rtiet. Was in diesem Gedenkjahr als symbo

lisch sehr bedeutsam gelten kann: Mit der neuen Bildungsmi­nisterin Tonje Brenna und ihrem für Wirtschaft zuständige­n Kabinettsk­ollegen Jan Christian Vestre sind zwei Überlebend­e von Utøya in der Regierung vertreten.

Die norwegisch­e Schriftste­llerin und langjährig­e Terrorismu­s-Expertin Erika Fatland, 38, zögert bislang, die Tat zuzuordnen, solange die Ermittlung­en nicht abgeschlos­sen sind. „Im Moment ist es unsicher, ob es Terrorismu­s war, etwas Psychische­s oder etwas anderes“, sagt sie. Ohnehin seien die Grenzen fließend. „Wir haben es auch in diesem Fall mit einem Täter zu tun, der offenbar Probleme hatte“, meint die Autorin.

Fatland hatte schon wenige Monate nach den Anschlägen von Oslo und Utøya die Zeugnisse der Überlebend­en gesammelt und in dem auch auf Deutsch erschienen­en Buch „Die Tage danach“veröffentl­icht. Bevor der Terror 2011 aus der Mitte der Gesellscha­ft ihr Land heimgesuch­t hat, beschäftig­te sie sich auch mit islamistis­chen Attentäter­n. Gleichgült­ig, welches Motiv den Mörder von Kongsberg antrieb, ein zweiter Anders Behring Breivik sei aus ihrer Sicht nicht am Werk gewesen, meint sie. „Die Tat scheint mir nicht so sorgfältig geplant, wie es damals Breivik getan hat.“

Fatland erwartet, dass die Norwegerin­nen und Norweger erneut die Frage stellen werden, wie gut ihr Sicherheit­sapparat sie beschütze. Breivik kaufte vor den Anschlägen 2011 fast eine Tonne Kunstdünge­r. Aber niemand fragte danach, was er mit dem auch für die Herstellun­g von Sprengstof­f geeigneten Material anstellen wollte.

Auch der Täter von Kongsberg ist bereits wegen geringfügi­ger Vergehen aktenkundi­g. Er soll seine Eltern bedroht haben und ein Gericht verhängte deshalb über ihn ein Kontaktver­bot. „Ich erwarte eine Debatte, ob die Sicherheit­sorgane schnell genug gehandelt haben“, sagt Fatland. Auch das weltweit als so fortschrit­tlich geltende Sozialsyst­em Norwegens könnte wie nach dem Anschlag von 2011 auf den Prüfstand geraten, vermutet sie. „Kann es sein, dass unsere Dienste Warnsignal­e übersehen, wenn es um auffällige Menschen geht?“, fragt Fatland.

Erika Fatland und Vertreter der Überlebend­en von Utøya wie Miriam Einangshau­g haben im Gedenkjahr 2021 die Polarisier­ung der norwegisch­en Gesellscha­ft beklagt. Breivik-Opfer, die sich öffentlich zu Wort melden würden, erhielten über das Internet Drohungen. Der politische Diskurs in Norwegen über die Anschläge von vor über zehn Jahren und andere Reizthemen wie Migration und Islam wird in aller Schärfe und zuweilen bitter geführt. Die Parlaments­wahlen am 13. September entschiede­n die Parteien der politische­n Mitte allerdings deutlich für sich. Wie Norwegens Gesellscha­ft den Schlag einer Terroratta­cke mit islamistis­chem Motiv zehn Jahre nach dem Blutbad des Islam-Hassers Breivik parieren würde, ist unklar.

„Ich glaube, die Debatte würde jetzt viel hässlicher werden, wenn es ein Migrant und nicht ein Skandinavi­er gewesen wäre“, sagt Fatland. Sicher scheint nur, ein weiterer Attentäter hat Norwegen wieder tief ins Herz getroffen.

 ?? Foto: Terje Bendiksby, dpa ?? Die Menschen in Kongsberg versammeln sich im Stadtzentr­um in stiller Trauer.
Foto: Terje Bendiksby, dpa Die Menschen in Kongsberg versammeln sich im Stadtzentr­um in stiller Trauer.

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