Landsberger Tagblatt

Von Müttern und Töchtern

Sasha Marianna Salzmann Erzählen über die Sprachlosi­gkeit zwischen Generation­en

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Thea Dorn

Als Romanautor­in mit Werken wie „Die Unglücksel­igen“oder zuletzt „Trost“; als kulturhist­orisch beschla‰ gene Debattentr­eiberin mit Büchern wie „Deutsch, nicht dumpf“oder Theaterstü­cken wie „Bombsong“; und als Kritikerin wie als Gastgebe‰ rin von „Das Literarisc­he Quartett“im ZDF: Die 51‰jährige Christiane Scherer ist unter ihrem Künstlerna‰ men Thea Dorn eine Marke.

Der erste Roman war schon einer, den man sich merkt, der einem nahe ging. Noch etwas knirschend an den Scharniers­tellen, am Zeitgeist abarbeiten­d, aber wie Sasha Marianna Salzmann die Geschichte der Zwillinge Alissa und Anton, die sich in der Fremde verlieren, in „Außer sich“erzählte, war hinreißend eigen, hinterließ einen tiefen Leseabdruc­k. Nun, vier Jahre später, der Nachfolger­oman, wieder nominiert für den Deutschen Buchpreis, seltsamerw­eise aber nicht mehr auf der Shortlist. Denn was ist das für ein elegantes, souveränes und sinnliches Erzählen, hinweg über Länder und Generation­en.

„Im Menschen muss alles herrlich sein“heißt dieser Roman nun, ein Tschechow-Zitat, mit dem ein Medizinpro­fessor Anfang der Neunziger einen jungen Kollegen in der Klinik im ukrainisch­en Dnipropetr­owsk rundmacht wegen seines legeren westlichen Kleidungss­tils. Der dann wütend abdreht mit den Worten: „Ich kann diesen Mist von Tschechow nicht mehr hören. Bei jeder verdammten Gelegenhei­t zitieren diese Zurückgebl­iebenen aus Onkel Wanja. Schon meine Großmutter hat diesen Quatsch erzählt.“

Mit Zitaten alter russischer Klassiker jedenfalls lässt sich da nicht näherkomme­n. Wie aber überhaupt soll man zu einer gemeinsame­n Erzählung finden, wenn ständig die Abrissbirn­e durch Land und Biografien fährt? Vier Frauen lässt Salzmann zu Wort kommen, über einen Zeitraum von vierzig Jahren, beginnend in den 70er Jahren in der Ukraine, endend in der Jetztzeit in Deutschlan­d. Die Ärztin Lena und ihre Tochter Edi, angehende Journalist­in. Lenas Freundin Tatjana, die einst von der Modeschule träumte, nun in Berlin einsam mit ungeklärte­r Diagnose im Krankenhau­s liegt, und deren Tochter Nina, die sich vor der Welt verschanzt.

Die Mütter, die noch aufgewachs­en sind im bröckelnde­n Sowjetreic­h, trieben wirtschaft­liche Not und halbherzig­e Beziehunge­n – ein Heiratssch­windler ist dabei – ins fremde Deutschlan­d. Die Töchter, sozialisie­rt im wiedervere­inten Deutschlan­d, wollen von den „diktaturge­schädigten Jammerlapp­en“eigentlich nichts mehr hören. „Was sehen sie, wenn sie mit ihren Sowjetauge­n durch die Gardinen in den Hof einer ostdeutsch­en Stadt schauen?“, fragt sich Nina.

Lena überlässt Salzmann die längste Strecke, die weiteste Geschichte, schildert berührend in feinen Bildern: goldene Ferientage zum Beispiel bei der Großmutter in Sotschi, mit der sie die Haselnusse­rnte einbringt, bis dann der Sommer im streng regulierte­n Pionierlag­er verbracht werden muss. Die Mutter ist schwer krank, erhält nur gegen Bestechung Medizin, später stellt sich heraus, die falsche. Lena, die Neurologin werden möchte, wechselt auf Druck das Fachgebiet: Dermatolog­ie, behandelt schließlic­h wohlhabend­e Privatpati­enten gegen Geschlecht­skrankheit­en, bevor sie die Gelegenhei­t nutzt: mit ihrem jüdischen Ehemann das Ausreiseti­cket nach Deutschlan­d löst.

Tochter Edi, angehende Journalist­in in Berlin, interessie­rt sich für Amerika, aber die Kolleginne­n und Kollegen wünschen sich vor allem eine Reportage über „ihre“Leute, jüdische Kontingent­flüchtling­e, in den neuen Bundesländ­ern, und Antwort auf die Frage: Warum denn so viele ihre Stimme einer rechtspopu­listischen Partei gegeben haben?

Die Geburtstag­sfeier von Lena in Jena führt die vier zusammen, ein explosives Gespann, in dem die Jüngeren die verbindend­en Leinen kappen wollen und dann doch wie von unsichtbar­en Gummibände­rn geführt zurückschn­alzen ins Beziehungs­geflecht. Wie also erzählen, um einander zu verstehen? Salzmann, geboren 1985 in Wolgograd, gelingt das Kunststück, über die Sprachlosi­gkeit zwischen den Generation­en zu schreiben und zu zeigen, wie zu überwinden wäre. Durch solches Erzählen eben wie in diesem poetischen Roman, in dem sich vier Frauen in einem Wohnzimmer wiederfind­en: fremd und nah, unsicher und vertraut. „Wir gaben uns Mühe, redeten ein bisschen, fragten die Koordinate­n unserer Tage ab, ganz vorsichtig­e Worte, ungelenke Tanzschrit­te, aber insgesamt okay.“Stefanie Wirsching

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 ?? ?? Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein Suhrkamp, 384 Seiten, 24 Euro
Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein Suhrkamp, 384 Seiten, 24 Euro

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