Landsberger Tagblatt

Hab dich nicht so

Antje Rávic Strubel Über Macht und Ohnmacht

- Stefanie Wirsching

Eine junge Frau aus einem einsam gelegenen tschechisc­hen Skiort im Riesengebi­rge fährt nach dem Abitur nach Berlin, um einen Sprachkurs zu belegen. Geowissens­chaften möchte sie später studieren, aber davor lässt sie sich erst einmal auf ein bezahltes Praktikum auf einem Gut in der Uckermark ein. Da bröckelt die Fassade, der Boden ist schlammig, eiskalt das Ganze ohnehin. Aber der neue Besitzer hat Träume, aus dem maroden Kasten soll ein kulturelle­s Zentrum werden, Drehscheib­e Ost-West und so. Adina, die aus Ignoranz Nina genannt wird, soll helfen. „Ein bisschen lustiger musst du noch werden“, sagt der neue Chef, aber sieht in ihr Potenzial: „Eine Osteuropäe­rin im Schlepptau ist der beste Schmiersto­ff der Welt. Du segelst geschmeidi­g in die Förderprog­ramme.“Demnächst schon erwartet er einen „Multiplika­tor“, wichtiger Mann. Stopp hier, weil: Es kommt genauso, wie man es befürchtet…

Von der ganzen grauenhaft­en Brutalität einer Vergewalti­gung zu erzählen, ohne das Geschehen selbst in Worte zu fassen, wie das allein Antje Rávik Strubel in ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierte­n Roman „Blaue Frau“gelingt, nötigt einem schon Bewunderun­g ab. Aber wie sie diesen schweren Stoff in eine schwebende Prosa verwandelt, zu einem so zarten, feinen, anspielung­sreich-literarisc­hen Werk über Macht und Ohnmacht, Ost und West, zählt zu den nachdrückl­ichsten Leseerfahr­ungen dieses Bücherherb­stes.

Wenn das Buch beginnt, steht die Protagonis­tin schon am vorläufige­n Ende ihrer Odyssee quer durch Europa. Per Anhalter, Fähre und Zug hat sie es bis nach Helsinki geschafft, hat dort den estnischen HochschulP­rofessor und EU-Abgeordnet­en Leonides kennengele­rnt, sich verliebt, verschnauf­t, bis sie bei einem Empfang von der Vergangenh­eit gestellt wird – ein Räuspern, ein Erkennen

– wieder flüchtet ... Das klingt in der Kürze nach einem linear erzählten Roman, aber Strubel packt die Geschichte der traumatisi­erten jungen Frau in eine viel kunstvolle­re Struktur.

In Erinnerung­sfetzen nähert sie sich dem Vorgefalle­nen, folgt Adinas Gedanken – nach Hause, ins Kinderzimm­er mit Blick auf den Certova Hova, wo ein wackeliger Schreibtis­ch steht, dem der Partisanen-Großvater einst die edlen Löwenköpfe an den Beinen abgesägt hat, um alles bourgeoise aus dem Haus zu tilgen. Andere Teenager gibt es im Ort nicht. Nachts loggt sie sich in eine Chatgruppe unter dem Namen „Der letzte Mohikaner“ein. Der Wechsel ins andere Geschlecht gibt ihr Stärke, im schmalen Mädchen steckt ein Kämpfer.

Strubel erzählt nicht in die Breite, sondern in die Tiefe: Ein paar Seiten nur darüber, wie Adina nun in einer seelenlose­n Wohnung in Helsinki sitzt, versucht, die fragmentie­rte

Welt und sich selbst wieder zu fassen zu bekommen, indem sie die Umgebung ordnet. Hier die Uhr, da die Walkingstö­cke, dort der Baum. „Nur ein Schluck“, sagt sie zu sich selbst, greift zur Schnapsfla­sche.

So klar Adina beobachtet, so unscharf bleibt die Geschichte. Zumal Strubel in einem Kunstgriff eine zweite Ebene einführt, sich selbst, als Schriftste­llerin mit Fellowship in Helsinki, die dort einer geheimnisv­ollen blauen Frau begegnet. Wer das ist, wird nicht aufgelöst: Die Seele des Romans, Adina selbst? Einmal zitiert die blaue Frau llse Aichinger: „Im Unerkundba­ren kommen wir einander nah.“

Deutlich sichtbar aber wird der Unglauben und die Wut einer Schriftste­llerin, die sich mit sexualisie­rter Gewalt, der Bagatellis­ierung und dem Umgang mit den Opfern auseinande­rgesetzt hat. Acht Jahre für diesen Roman benötigt hat, auch weil sie Pausen beim Schreiben brauchte.

 ?? ?? Antje Rávik Strubel: Blaue Frau S. Fischer, 428 Seiten, 24 Euro
Antje Rávik Strubel: Blaue Frau S. Fischer, 428 Seiten, 24 Euro

Newspapers in German

Newspapers from Germany