Felicitas Hoppe birgt den Nibelungen-Schatz
Ein mythischer, überlebensgroßer Stoff hat schon so manchen Autor und manche Autorin erdrückt. Die Last der Geschichte, dazu eine lange Tradition, immer neue Fassungen und Interpretationen. Wer sich da zu tief hineinbewegt, verliert sich schnell. Und wer die vielen Vorgeschichten schlichtweg ignoriert, macht es sich zu leicht. Nun scheint Felicitas Hoppes Neuerzählungen der Nibelungen-Sage über 250 Seiten hinweg vor Erzähl- und Fabulierlust über alles förmlich hinwegzufliegen, trotzdem schafft es die Schriftstellerin auf ihre unnachahmliche Weise, diesem Mythos neu auf den Grund zu gehen – ihn in seinem Gehalt ernst zu nehmen, ihm aber eine neue, spielerische, ja übermütige Form zu verpassen.
„Ein deutscher Stummfilm“heißt es im Titel. Aber dieser Stummfilm – der an Fritz Lang denken lässt – ist nur die eine Ebene, die als Erzählvorlage dient, die andere ist eine Festspielinszenierung in Worms, die als Grundgerüst für die Nacherzählung dient. Das hört sich bei Hoppe dann wie folgt an: „So sitzen wir da, in einem lecken Beiboot für vier: Siegfrieds gehäuteter Zorn zwischen zwei dienstbaren Sängern und einem Geliebten auf Abruf. Vier schlecht beleuchtete Figuren ohne Identifikationspotenzial, ausschließlich damit beschäftigt, meerwärts zu treiben. Denn im Gegensatz zu Vater Rhein hat die Donau offenbar nicht die geringste Absicht, mit uns in ein Gespräch einzutreten, während es zunehmend dunkler und kälter wird.“
Auf kürzester Distanz werden die verschiedenen Ebenen des Romans miteinander wie in einem surrealistischen Kunstwerk verschränkt. Die Sätze fügen sich perfekt, aber die Geschichte springt vom Stummfilm in die Metaebene, von einem erzählenden Wir zu den Großkapiteln Rhein und Donau, die Hoppe klug und der Sage nach zur Einteilung des ganzen Stoffes benutzt. Am Schluss des Beispiels ist das Publikum einbegriffen, das Dunkelheit und Kälte spürt.
Auf diese Weise bringt Hoppe den Nibelungen-Mythos zwischen Rhein und Donau zum Sprudeln, legt dabei die alte Grundstruktur frei und hinterfragt alles gleichzeitig – etwa in den beiden mit „Pause“betitelten Kapiteln, in denen die Schauspieler zu Wort kommen und sich über ihre Rollen auslassen. Eine geniale Idee, um die Sage um Siegfried und Gunther, Kriemhild und Brunhild, um den Drachen und das Lindenblatt und Hagen und um das blutige Festbankett in Etzels Palast virtuos von allen nur möglichen Seiten zu beleuchten.
Allein, wie sie den unglaublichen Schatz einführt. Denn gleich zu Beginn haben die Schätze, die aus Gold sind, die Eigenschaft, zu Wörtern zu werden und dadurch immer geheimnisvoller und auch schwerer zu werden. Genau so verhält es sich mit diesem Roman – da ist ein uralter Schatz ganz Wort geworden. Aber er zeigt sich nur demjenigen, der bereit ist zu verweilen, Geduld mitbringt und das langsamste Lesetempo anschlägt.